Ich teilte mir den Tag neu ein, stabilisierte und ritualisierte den Ablauf meiner Stunden. Ich stand noch früher auf — sechs Uhr! — , verließ das Haus, spazierte auf dem Eisernen Steg über den Main, am Römer vorbei zur Berliner Straße, wo im Souterrain eines Bürgerhauses die Bäckerei Kaiser war, die das beste Sauerteigbrot und die besten Brötchen der Stadt buk; den Rückweg nach Sachsenhausen zum Oppenheimer Platz nahm ich über die Kurt-Schumacher-Straße und die Alte Brücke. Meine Route dauerte etwa eine halbe Stunde, und im Straßenlärm fiel das nicht auf, wenn ich vor mich hin redete. Ich erzählte mir selbst eine Geschichte. Und zwar laut. Ich fing mit irgendeinem beliebigen Satz an. Achtete sogar besonders auf dessen Beliebigkeit. Nahezu hundert Prozent aller Dinge erscheinen einem ohne Bedeutung; folglich, wenn man ins Leben einblendete — und der Beginn einer Erzählung war ja nichts anderes als eine solche Einblendung —, war die Wahrscheinlichkeit überwältigend hoch, daß man auf etwas Bedeutungsloses traf. Der Zweck einer Erzählung aber bestand ja gerade darin, dem Bedeutungslosen Bedeutung zu verleihen, und zwar allein dadurch, daß ich behauptete, es habe Bedeutung … Nein, soweit war ich noch nicht. Am Ende unserer Diskussion hatte ich mich mangels eines panzerbrechenden Arguments enerviert Dagmars Meinung unterworfen, nämlich daß Literatur eine emanzipatorische Aufgabe zu erfüllen habe (ihre Mitbewohnerin und auch die beiden Bärtigen in der Mensa hätten korrigiert: einen agitatorischen Zweck!), und fügte lediglich quengelnd hinzu, daß auch hinter meinen Erzählungen eine Idee stehe, die allerdings nur in dieser spezifischen Form begreiflich werde, und daß gerade die Entdeckung der scheinbar bedeutungslosen Dinge von großer Bedeutung sei, weil sie den Menschen die Einheit allen Seins antizipieren lasse — oder so ähnlich, um Himmels willen. Auch wenn ich mich mit bestem Wissen und Gewissen vom herrschenden Zeitgeist fernhielt, hatte ich noch nicht den Mut zu behaupten, der Sinn einer Erzählung sei die Erzählung selbst und nicht ein didaktisches Etappenziel auf dem Weg zur Besserung. — Jedenfalls: Bevor ich den Main erreichte — also etwa fünf Minuten nach Verlassen des Hauses —, mußte der erste Satz stehen. Meistens war es eine wörtliche Rede. Irgend jemand sagte zu irgend jemandem irgend etwas. Der andere gab Antwort, ich spuckte in den Main und dachte mir aus, wo das Gespräch stattfand; beschrieb mir einige Details, entwarf mir ein Bild von Jahreszeit und Tageszeit und Stimmung. Ich ließ die beiden abwechselnd noch ein paar Sätze sagen — einer der beiden war mein Jacob, der vife Zehnjährige, der seine Welt in die Angeln stemmte, indem er zum Beispiel darauf achtete, daß immer Milch und Kakao im Haus waren, weil eine Tasse heißer Schokolade die Mutter etwas näher an ihn heranholte und damit berechenbarer werden ließ, was wiederum eine Voraussetzung war, wenn sie gemeinsam die Launen des Vaters im Zaum halten wollten … Die zweite Person war entweder bereits in anderen Geschichten aufgetreten oder war, was ich aufregender fand, ein neuer Mensch, der von irgendwoher dazukam und den Jacob — und mit ihm ich — erst kennenlernen mußte.
Wenn ich mit dem Brot nach Hause kam, war die erste Geschichte des Tages in groben Zügen fertig. Ich stellte das Kaffeewasser auf, repetierte den Ablauf murmelnd vor mich hin und notierte mir die Namen der neu auftretenden Personen und die Eckpunkte der Handlung. Ich weckte Dagmar, wir frühstückten. Sie fragte:»Und?«Ich sagte:»Ja. «Dann ging sie, entweder in die Uni oder zu ihrer Wohnung oder bloß in die Stadt. Mittags trafen wir uns in der Mensa. Regelmäßig kam es zu Zänkereien mit den beiden bakuninistischen Bärten, woran übrigens immer ich schuld war.»Du interessierst dich nicht für meine Leute!«warf mir Dagmar hinterher vor» Nein«, gab ich ihr recht,»ich habe keine Zeit, ich muß nämlich Geschichten über andere Leute schreiben. «Anschließend fuhr sie nach Hause, unterwegs kaufte sie fürs Abendessen ein, Camembert crème du prés, Zervelatwurst, Schnittlauch, Tomaten und Zwiebeln und manchmal eine Flasche Wein (für sich, ich habe Alkohol nicht angerührt). Ich spazierte derweil durch die Stadt, stöberte in Buchhandlungen, Antiquariaten oder Plattenläden und setzte mich schließlich ins Laumer oder in das Café in der Hauptwache und erzählte mir die Nachmittagsgeschichte direkt in ein Schulheft. Auch hier war Jacob der Held. Aber im Gegensatz zur Vormittagsgeschichte, in der über ihn in der dritten Person erzählt wurde, war nun er selbst der Erzähler. Mir kam das wie eine Synthese von Tom Sawyer und Huckleberry Finn vor. Der Vergleich befeuerte mich. Am Abend legten wir uns ins Bett, und ich las vor, ihren Kopf auf meiner Schulter, einen Schenkel zwischen ihre Beine geklemmt, ihre warmen weichen Brüste an meiner Seite, eine konnte ich sehen, wenn ich am Ende eines Blattes angelangt war.
Eine Zeitlang ging das gut, die Geschichten flogen mir zu. Ich kam mir vor wie Balzac oder Tschechow oder George Simenon. Wenn ich keine Zeit fand, die Nachmittagsgeschichte in die Maschine zu schreiben, tippte sie Dagmar am nächsten Tag ab. Einen Monat lang ließ ich keinen Tag aus. Und irgendwann fiel mir nichts mehr ein. Als ich mit dem Brot fürs Frühstück nach Hause kam, hatte ich noch nicht einmal einen ersten Satz. Und am Nachmittag saß ich im Laumer vor meinem Heft, und Jacob redete nicht mehr mit mir. Dagmar meinte, das liege daran, daß ich immer noch für den Rundfunk und den Schulbuchverlag arbeite; Jacob sei in den Streik getreten, er verlange, daß ich nur noch für ihn da sei; ich müsse ab sofort alles andere sein lassen und mich nur noch dem Schreiben widmen. Aus mir werde der beste Schriftsteller der Gegenwart werden, ich werde sie alle wegwischen, den Grass, den Böll, den Walser, sogar den Enzensberger. Um das Leben, das wirkliche, solle ich mich nicht kümmern. Sie werde für mich sorgen. Sie werde ihr Studium aufgeben und eine Arbeit annehmen.
«Was für eine Arbeit denn?«fragte ich.
«Ich werde putzen«, trumpfte sie auf.
Sie stand vor mir, den Rücken gekrümmt, Kaffeeduft aus ihrem Mund, um den schönen Kopf ein Seidentuch mit heiteren indianischen Motiven in Purpur, Grün und Orange. Wenn einer dich größer vor dir erstehen läßt, als du bist, wird eine Verminderung daraus, sobald du es durchschaust. Alles sah sie größer als das Leben, sogar dessen Verkleinerung, und darum meinte sie, ich mißachte mein Talent sogar noch mehr, als sie es ohnehin vermutet hatte, und das trieb sie zu Maßlosigkeiten, an die sie selbst nicht mehr glaubte, die sie aber mit einer Absicht einsetzte: Ich weiß ja, daß er mir nicht glaubt; immer meint er, von allem, was ich sage, zwanzig Prozent abziehen zu müssen; wenn ich also zwanzig Prozent drauflege, landen wir ungefähr bei der Wahrheit. Ich aber zog weitere zwanzig Prozent ab, und sie legte noch einmal dazu, was nur bewirkte, daß ich weiter von mir subtrahierte. Und so steigerten wir uns hinauf und hinunter. Ich sagte:»Du kannst ja gar nicht putzen!«
5
Sie wollte nicht, daß ich mit ihr in ihre Wohnung in der Bockenheimer Landstraße komme. Der Grund war die Germanistin, mit der sie zusammenwohnte. Dagmar wollte nicht, daß ich diese Frau kennenlernte. Aber schließlich lernte ich sie doch kennen. Eine rundliche Schwäbin mit einem Kleinmädchengesicht, Pausbacken, steile, gewölbte Stirn, verwöhnter Schmollmund; schwer zu schätzen, wie alt, dreiundzwanzig oder dreiunddreißig; auf dem Näschen eine John-Lennon-Brille, die sie aber nicht wie Janis Joplin aussehen ließ, sondern wie ein fleißiges Kind (eine» Petze«, die sie ja auch war); ungeschminkt, ungepflegt; trug einen Rock und einen Pullover, beide im Karstadt-Wühlkisten-Stil, orange und grünlich; ihre Frisur war auf eine alberne Art bieder und wohl mit der gleichen Absicht geschnitten wie die Kleidung ausgewählt. Dagmar stellte uns einander vor. Die Germanistin saß mitten in ihrem Zimmer im Schneidersitz, als bete sie oder spiele Monopoly. Sie wandte ihren Kopf und schaute mir in die Augen, und ihr Blick sagte: Dich kenne ich, du bist Scheiße. Ihr Zimmer war leer, bis auf ein schmales Bett, einen Resopalküchentisch vom Trödler, einen Stuhl und einen Koffer. Keine Vorhänge, keine Bücher. An der Wand hing ein Poster, das einen lachenden Chinesen mit einer Schirmmütze zeigte, der ein gemustertes Tuch über der Schulter hängen hatte und einen Stab — oder war es eine Flöte? — in einer Hand hielt.