«Weißt du«, verriet ich Margarida auf dem erwähnten langen Spaziergang am Inn entlang,»daß ich euch beide als mein ideales Elternpaar gesehen habe?«
«Um der Heiligen Madonna willen!«rief sie aus und lachte breit und laut.»Dafür bitte ich dich noch nachträglich innig um Verzeihung!«
«Aber warum denn! Ihr habt mich ruhig werden lassen. Kannst du dir vorstellen, was das für mich bedeutet hat?«
«Ja, natürlich kann ich mir das vorstellen.«
«Das heißt ja nicht, daß ich meinen Vater und meine Mutter nicht geliebt hätte. Aber bei denen war es nicht ruhig. Oder es war zu ruhig. Stille war am gefährlichsten. Bei Carl und dir, das war, als ob mein Kopf kein Gewicht hätte.«
«Das, mein lieber Kleiner«, sagte sie mit bedeutungsvoller Stimme, meinte es aber ernst,»das liegt an unserer Synchronizität.«
Auf den Spaziergängen durch Lans kamen wir auch an der gelben Villa vorbei, und jedesmal sagte Margarida, wie herrlich es sein müsse, in diesem Haus zu wohnen, und Carl antwortete, ja, wenn es nur unten in der Stadt stünde. Anfang der achtziger Jahre haben sie die Villa gekauft. Einen Vorteil habe es, hier oben zu wohnen, witzelte Carl, er müsse nun nicht mehr jeden Tag die Felsen der Nordkette vor sich sehen, dieses Brett vor dem Kopf dieser Stadt. Dafür sah er den Patscherkofel, sanft und rund wie die Brust einer liegenden Frau. Ich war immer der Meinung gewesen, Carl passe nicht in dieses Haus. Tatsächlich hatte er sich lange dagegen gesträubt, die Wohnung unten in der Anichstraße aufzugeben. Nach Margaridas Tod — sie hatte nur ein Jahr in ihrem Traumhaus gelebt — überlegte er sich, es zu verkaufen, überhaupt aus Innsbruck wegzuziehen, zurück nach Wien, zum Rudolfsplatz. Aber er ist geblieben. Weil Margarida auf dem Dorffriedhof begraben liegt.
Das Haus steht an einem Hang, der über Tannenspitzen und Buchenkronen in ein Felsstück übergeht. Es war von den ehemaligen Besitzern in Habsburgergelb gestrichen worden; alles, was vom Himmel kommt, hat es im Laufe der Jahre entschieden interessanter umgefärbt; außen hatten Carl und Margarida nie etwas verändert. Mit seiner Front weist das Haus gegen den Berg und wirkt mehr stur als herrschaftlich, die beiden Ziertürmchen an den Kanten scheinen wie Messer und Gabel in den Händen eines trotzigen Kindes. Ich habe Nächte in diesem Haus verbracht, wenn der Föhn vom Patscherkofel herunterraste, und es war ein Lärm gewesen, wie ich vergleichbaren nie in der Natur erlebt hatte — auch nicht während der Winterstürme von North Dakota.
3
Der Taxifahrer nahm mein Gepäck aus dem Kofferraum. Vom Rufen war mir schwindlig geworden. Mein Kreislauf sackte ab. Ich mußte all meine Kräfte sammeln, um durch den schmalen Vorgarten zum Haus hinaufzugelangen. Nach dem Frühstück in der Klinik war mir der Katheter entfernt worden; jetzt war Nachmittag, und das hieß: Ich hatte meine ersten fünf Stunden Inkontinenz hinter mir; und das hieß: fünf Einlagen. Der Chauffeur ging über die Zementstufen voraus, an den in Vlies eingepackten Rosenbäumchen vorbei, die Steinplatten dampften in der Sonne, er trug meinen Koffer und meine Ledertasche und war auf eine Weise heiter, redselig und laut, wie es Gesunde nur gegenüber Kranken sind, die sich offenbar unter der unsichtbaren Schattenhand des Todes zu schwerhörigen und unterbelichteten Hosenmätzen zurückgebildet haben. Ich kam mir so hoch über dem Boden vor, der Kopf so weit oben, von der Nasenspitze zur Schuhspitze ein Abgrund, torkelte und hüpfte wie auf Stelzen, drückte den roten schwimmreifgroßen Gummiring, den mir die Sekretärin von Dr. Strelka mitgegeben hatte, damit ich mich darauf setze, gegen meine Brust. Die Spätwintersonne blendete mich, auch wenn ich ihr den Rücken zuwandte; die würzige Luft, die von der Erde aufstieg, war zu stark für Nerven und Nase, wie eine Überdosis von irgend etwas. Der Hang wies nach Südwesten, der Schnee war geschmolzen, nur unter den Büschen hielten sich kleine schmale Schneerampen, die gesprenkelt waren mit Resten von Rosenblättern. Auf dem vereisten Parkplatz vor der Frauenkopf-Klinik hatte ich mich von einem Pfleger führen lassen. Nun setzte ich meine ersten eigenen Schritte im Freien, versuchte dabei, wie mir beigebracht worden war, die Beckenbodenmuskulatur zusammenzuziehen.
Carl winkte mir immer noch zu, den Arm hielt er inzwischen näher beim Körper, als wäre ihm die Hand zu schwer geworden. Schließlich verharrte sie in einer cäsarenhaften Geste. Sein Torso reichte nicht einmal aus, die Rückenlehne des Rollstuhls abzudecken. Wenig war er geworden.
Ich überholte den Taxifahrer, nahm zwei Stufen auf einmal, mein Penis rutschte aus der körbchenartig geformten Einlage, Urin sickerte in Unterhose und Hose, ich mußte innehalten, um Luft zu holen, und als ich schließlich vor Carl stand, raste mein Herz und auf meiner Vorderseite war ein nasser Fleck, drei Handteller groß. Ich raffte den Mantel darüber.
«Ich kann’s noch nicht.«
«Vor mir brauchst du dich nicht genieren.«
Er streckte mir die Hand entgegen, formte mit den Lippen meinen Namen. Der Ärmel seines Hausmantels glitt zurück, sein Unterarm war mit Altersflecken gesprenkelt wie der Schnee unter den Rosenbüschen mit altem Rosenlaub. Seine Augen waren klein, wäßrig und an den Rändern entzündet; in den Winkeln klebten die Wimpern aneinander. Er trug ein Gebiß, was für mich neu war, kalkig, matt, zu groß, die Lippen schlossen sich nur mit Mutwillen darüber. Um Entzündungen vorzubeugen, erzählte er mir später, seien ihm vor einem Jahr alle Zähne gezogen worden. Ein lebenslang vertrauter Ausdruck war seinem Gesicht genommen, und etwas Hämisches hatte sich eingeschlichen — oder war geweckt worden; wenn er lachte, verschwand es; es gab keine Übergänge, keine Abstufungen, kein Nachklingen. Kann ein schlecht sitzendes Gebiß die Mimik eines Menschen so stark verändern, daß man einen anderen Charakter vor sich glaubt, wenn der nicht schon vorher in ihm gesteckt hat? Oder daß mangelndes technisches Können von Zahnarzt und Zahntechniker tatsächlich eine Wahrheit ans Licht bringt, die sich fast ein Jahrhundert lang spielend hatte verbergen lassen? Oder war es letzte verzweifelte Schadenfreude über das eigene Gebrechen, die seinem Gesicht diesen neuen, irritierenden Zug gab? Daß sich sein Geist sarkastisch über seinen Körper erhoben, sich bereits von ihm abgelöst hatte und weder Nostalgie noch Wehmut, weder Mut noch Hoffnung, kein Mitleid und keine Strenge für ihn übriggeblieben waren, sondern nur mehr eine Empfindung von Lästigkeit; daß er seinen Körper abgeschrieben hatte, wie einer seinen Sohn abschreibt, wenn ihm klargeworden ist, daß nie mehr etwas aus ihm werden kann? Die schutzlose, harmlose Kindlichkeit in seinem Blick stand dagegen und gehörte wieder zu jemand anderem. Auch den kannte ich nicht. Die Haut um die Augen herum war dünn, neben der Nase zu den Bäckchen hin babyhaft blühend, und die Augen erzählten eine mir nicht weniger unangenehme Geschichte, daß nämlich die Kraft, die Männlichkeit, das rigorose Selbstbewußtsein, die enorme Intelligenz, die sanfte intellektuelle Hartnäckigkeit, aber auch die intellektuelle Großzügigkeit, die manchmal wieder nur Gleichgültigkeit sein mochte, kurz: daß das Charisma, das diesem Mann sein Leben lang eignete, tatsächlich auf einer falschen Beurteilung durch seine Umgebung beruht hatte … — So viel Kraft brauchte dieses Gesicht inzwischen, um einen bestimmten Ausdruck zu formen; so viel Kraft noch einmal, um diesen Ausdruck festzuhalten, wenigstens für eine halbe Minute, damit er sich nicht gleich wieder auflöste und in ein Nichts absackte, das dann allein meinem Respekt zur Interpretation überlassen war.