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Meine nasse Hose gegen seinen Rollstuhl. Ich legte den Mantel ab.»Es ist so eklatant, daß ich nicht einmal versuchen muß, es zu verbergen, stimmt’s?«

«Vor mir brauchst du dich nicht zu genieren«, wiederholte er. Wenn er sprach, war alle Greisenhaftigkeit verflogen.

Der Taxifahrer sagte:»Bei meinem Schwiegervater hat es drei Jahre gedauert.«

«Aber ich kenne einen«, antwortete Carl und drohte mit seinem Krähenfinger, als habe er den Taxifahrer beim Schwindeln ertappt,»bei dem hat es nur zwei Wochen gedauert. «Der Mann konnte den Spott nicht heraushören, es mußte einer schon geschult sein in der Harmonik von Carls feinen Untertönen.

«An diesem Punkt erwischt es uns Männer alle früher oder später«, sagte der Taxifahrer.

«Wie alt sind Sie denn?«fragte Carl.

«Zweiunddreißig.«

«In diesem Alter kommen die Gefahren freilich aus einer anderen Richtung.«

«So ist es!«rief der Taxifahrer fröhlich und tänzelte behende und gesund durch den Rosengarten zu seinem Wagen hinunter und hatte doch nicht die geringste Ahnung, worauf dieses weiße Gespenst in dem moosgrünen Hausmantel anspielte. Ich hatte ebenfalls keine Ahnung. Aber ich mußte es ja auch nicht mehr wissen.

Eine Frau kam aus dem Haus und gab mir die Hand wie einem, der lange erwartet worden war.

«Frau Mungenast«, stellte mich Carl vor,»das ist Sebastian.«

Sie war etwa in meinem Alter, hatte ihr Haar aufgesteckt, dunkles Mahagoni, trug ein blaues Kleid, das wahrscheinlich von ihrem Pflegeverein vorgeschrieben war. Sie band es mit einem Gürtel eng um den Leib. Der Gürtel paßte nicht, er war aus braunem Krokoleder, ein Männergürtel. Sie war klein, stand sehr aufrecht vor mir. Mir war, als suchte sie etwas in meinen Augen. Vielleicht vermied sie auch nur, an mir hinabzusehen. Ich hatte das Gefühl, sie mochte mich gleich, und ich mochte sie auch gleich. Sie hatte zwei Decken unter einem Arm.

«Setz dich neben mich in die Sonne«, sagte Carl.»Ich habe zu Frau Mungenast gesagt, daß du Kuchen magst. Sie hat welchen aus der Stadt mitgebracht.«

«Streusel-Kirsch«, sagte sie.

Als sie zurück ins Haus gegangen war, um den Tee zu holen, sagte er:»Sie hat ein eigenes Zimmer oben. Aber sie benutzt es selten. Manchmal bleibt sie über Nacht. Wenn ich ihr am Abend nicht gefalle. An den Wochenenden kommt Ersatz. Immer jemand anderer. Und am Mittag kommt eine Frau aus dem Dorf, die für mich kocht.«

Er schaltete das Handy ab und ließ es in die Tasche seines Hausmantels gleiten.»Jetzt bist du ja hier.«— Was hätte ich denken sollen? Er war sich nicht sicher gewesen, ob ich wirklich komme, hätte ja sein können, daß sie mich doch noch im Krankenhaus behalten, hätte ja sein können, daß ich im letzten Augenblick anrufe, weil ich es mir anders überlegt hatte. Also: daß er, der Telefonierer, am Ende seines Lebens nur noch mit mir telefonierte, daß sein Handy allein auf meinen Anruf gewartet hatte, daß es nur für mich dagewesen war und nun geschlossen werden konnte. — Das war falsch gedacht gewesen.

«Wenn Margarida noch am Leben wäre«, sagte er mit feierlicher Stimme,»dann wär’s wie früher. Aber Frau Mungenast wird sich bemühen, daß dein Aufenthalt bei uns so angenehm wie möglich wird.«

4

Nach einer Woche traute ich mir zum erstenmal zu, Carl im Rollstuhl bis hinüber ins Dorf zu schieben. Ich polsterte mich aus wie ein Landsknecht und stopfte meine Manteltaschen mit Einlagen zum Wechseln voll. Carl steckte auf Anweisung von Frau Mungenast sein Handy ein, damit wir erreichbar wären oder, falls nötig, Hilfe rufen könnten. Nach vier Wirbeleinbrüchen infolge von Osteoporose konnte er sich nur noch für Minuten auf den Beinen halten. Gegen die Schmerzen bekam er alle zwei, drei Tage Morphiumpflaster aufgelegt, die er allerdings nicht gut vertrug, weswegen sie öfter abgezogen und an einer anderen Stelle an Brust oder Rücken aufgeklebt werden mußten. Wenn sie frisch waren, war es mühsam, sich mit ihm zu unterhalten; er schaffte es nicht, sich zu konzentrieren, wurde albern und schwerhörig, sackte in Schlaf und fuhr auf, wenn sein Kopf vornüberfiel. Wenn ich ihn in diesem Zustand vor mir sah, im Halbdunkel hinter den zugezogenen Vorhängen, erinnerte er mich an jemanden, und mir wollte nicht einfallen, an wen — an jemanden, den ich kannte, oder an einen Schauspieler aus irgendeinem Film oder an eine Figur aus einem Roman, der meine Einbildung so deutliche Züge verliehen hatte. Das Morphium veränderte seine Physiognomie. Sein helles Gesicht wurde grob, fleckig, aufgedunsen, wirkte vernachlässigt wie das Gesicht eines Trinkers; die Mehrdeutigkeit der Gedanken, die ich jederzeit hinter seinen Augen ahnen konnte, wurde ausgelöscht von den trägen Lidern. Nach ein paar Stunden ließ der erste Betäubungsschub nach, und er war wieder so klar im Kopf wie je, und sein Gesicht fand zu den alten Farben und Formen zurück. Frau Mungenast verbot ihm aus dem Rollstuhl aufzustehen, und mich hatte sie vor unserem ersten größeren Spaziergang beiseite genommen; ich solle ja nicht den toleranten Freund spielen, der Freude ins Leben dieses Mannes bringen wolle, hatte sie gesagt; ich müsse mir im klaren sein, daß bei weiteren Einbrüchen die Gefahr einer Lähmung bestehe. Außerdem hatte Carl Ödeme in den Beinen, die von einer altersbedingten Rechtsherzinsuffizienz herrührten, und die Gelenkschmerzen, die ihn schon seit Jahrzehnten quälten, ließen inzwischen jede Bewegung zu einem Unternehmen werden, das er bedenken mußte. Um es mit den Worten von Frau Mungenast zu sagen: Carl war ein multimorbider Patient. Ganz gewiß wollte ich nicht den toleranten Freund spielen, aber ich war nun einmal sein Freund, und er war fünfundneunzig Jahre alt, und ich gedachte alles zu tun, worum er mich bat — soweit es im Bereich meiner Möglichkeiten lag. Dieser Bereich war ohnehin bescheiden. In der ersten Woche war ich die meiste Zeit tagsüber auf dem Sofa gelegen. Die Inkontinenz plagte mich. Fünfmal am Tag absolvierte ich meine Übungen zur Stärkung der Beckenbodenmuskulatur, morgens nach dem Aufwachen, mittags, nachmittags, am Abend und in der Nacht vor dem Einschlafen, jedesmal hundert Anspannungen.

So freundlich sich Carl Frau Mungenast gegenüber gab, so kühl, ja abweisend verhielt er sich gegen die Frau, die sich um den Haushalt kümmerte und kochte, ebenso gegenüber ihrer Tochter, mit der sie sich abwechselte. Er hatte es nicht gern, wenn sie in seiner Küche kochten, deshalb brachten sie das Essen in verschlossenen Stahltöpfen mit und wärmten es lediglich auf. Das Abendessen bereitete meistens Frau Mungenast zu. Sie war morgens ab sieben Uhr im Haus, wenn Carl und ich noch schliefen. Sie wartete, bis Carl aufwachte, und richtete ihn für den Tag her. Ich fühlte mich sehr wohl in ihrer Gegenwart. Sie erkundigte sich nach meinem Leben, richtete mir einen Gruß von einer Freundin aus, die ein Buch von mir gelesen hatte, und tröstete mich, indem sie von vergleichbaren Fällen berichtete. Sie war geschieden und lebte inzwischen allein. Das» inzwischen «deutete ich so, daß sie nach der Ehe Männer gehabt hatte, wenigstens einen. Ich fand sie attraktiv, ihre Haltung ließ sie vornehm wirken, daran änderte auch ihre taubengraue Tracht nichts. Manchmal setzte sie sich zu uns, wenn Carl von seinem Leben erzählte. Die Anwesenheit der Köchin und ihrer Tochter hemmte ihn. Immer wieder fiel ihm etwas ein, was sie in der Stadt besorgen sollten — Kuchen, feinen Schinken, Speck, einen Laib Nußbrot. Oder er schickte nach einer CD, die er vorher telefonisch im Musikladen bei der Maria-Theresien-Straße bestellte — er sei dort einer der besten Kunden gewesen, schmunzelte er, und als Kenner durchaus berühmt, und es sei nicht nur einmal vorgekommen, daß ein aufgeweckter Zwanzigjähriger ihm den Kopfhörer gereicht und ihn um seine Meinung über eine Jazznummer gebeten habe. Mutter und Tochter hatten einen eigenen Wagen, einen büchsengroßen, aluminiumfarbenen Koreaner. Carl gab ihnen die Schlüssel zu seinem Mercedes.»Mit dem suchen sie erst einmal eine Stunde lang nach einem Parkplatz«, sagte er.