Margaridas Schwester Adelina erkrankte an Krebs und starb. Ihr Mann verlor den Boden unter den Füßen, und seine Familie suchte eine neue Frau für ihn. Bis es soweit war, nahmen Margarida und Carl die Zwillinge zu sich. Den Buben wollten die Großeltern haben.
Nun waren sie eine Familie. Vater, Mutter, zwei hübsche, hüpfende Töchter — Mariana und Angelina. Für zwei Jahre waren sie eine Familie. Margarida nähte für die beiden Kleidchen, und für ihre Lieblingspuppen nähte sie die gleichen Kleidchen, nur kleiner. Carl war viel unterwegs, in England, aber auch in Deutschland. Dann brach der Krieg aus. Während eines Aufenthalts in London wurde Carl, als Bürger des Deutschen Reiches, festgenommen. Er wurde in ein Internierungslager nach Australien gebracht, weiter nach Kanada. Er schrieb Margarida. Sie brauche sich nicht um ihn zu sorgen, und sie sorgte sich nicht. Ihr Schwager heiratete wieder, und Mariana und Angelina zogen zu ihm und ihrer neuen Mutter, und Margarida war allein.
Sie besuchte ihren alten Vater in Coimbra. Inzwischen nannte er sich einen Feind der Regierung, aber nur seiner Tochter gegenüber. Er hasse die Politik, sagte er. Aber er sagte es leise, flüsterte in seinem eigenen Haus. Traute niemandem mehr, traute sich nicht einmal vor den wenigen Freunden, die ihm geblieben waren, seine Verbitterung zu zeigen, weil er fürchtete, dies könne als Kritik am Estado Novo verstanden werden. Nur seiner Tochter gegenüber äußerte er seine Enttäuschung und auch seine Empörung über die Übergriffe der Polícia de Vigiância e Defesa do Estado, dieser allerorts lauernden politischen Polizei, die inzwischen auf sämtliche Organe des Staates, einschließlich der Streitkräfte, Einfluß ausübte. Am Ende seines Lebens hatte Herr Durao noch einmal eine Wendung in seinem Denken vollzogen; allerdings betraf diese nur sein politisches Denken. Mehr als je zuvor wandte er sich der Religion zu, und wenn Margarida ihm das Offenkundige vor Augen hielt, nämlich daß die Kirche die solideste Stütze der Diktatur sei, hörte er einfach weg. Er hätte es gern gesehen, wenn seine Tochter wieder nach Coimbra gezogen wäre, wenn sie in seinem Haus gewohnt hätte. Aber Margarida kehrte nach Lissabon zurück. Wenige Monate später starb ihr Vater.
«Hätte ich damals nicht mit Daniel geschlafen«, erzählte sie,»ich hätte ihn nun nicht gesucht. So aber habe ich es getan.«
Daniel Guerreiro Jacinto wohnte noch unter derselben Adresse, und er war noch allein. Sie blieb über Nacht. Sie wollte nicht, daß er zu ihr in die Wohnung komme. Deshalb war sie die meiste Zeit bei ihm. Bald lebten sie zusammen wie ein Paar. Vor Daniels Freunden verheimlichten sie, daß Margarida verheiratet war. Unter seinen Freunden war eine Frau, die einer Widerstandsgruppe angehörte. Margarida schloß sich dieser Gruppe an. Den Genossen verheimlichte sie, daß ihr Vater Joaquim Armando Durao war, weil jeder wußte, daß der in seinen Zeitungen Salazars Sache von Anfang an befördert hatte.»Mehr als diskutiert haben wir nicht. Einmal haben wir einen Packen Flugschriften gedruckt und an einer zugigen Ecke der Praça do Comércio abgelegt und haben uns im nächsten Eingang versteckt und zugesehen, wie die Blätter vom Wind über den Platz verstreut wurden. Die Leute hoben sie auf, aber als sie die Überschrift lasen, warfen sie sie schnell weg. Nur ein Wort hatte auf dem Blatt gestanden: Tarrafal. «Das war der Name des Lagers auf einer der Kapverden-Inseln, wohin die Feinde des Staates gebracht wurden.
Ein Brief von Carl aus Amerika kam an. Er lebte in New Mexico und wollte, daß sie zu ihm komme. Sie zögerte nicht einen Augenblick. Sie löste erneut die Verbindung zu Daniel, fuhr zu Carl und erzählte ihm alles.
«Er reagierte sehr still darauf. Er fragte, was weiter daraus werde. Ich sagte, daß nichts weiter daraus werde. Damit war es gut.«
Nach der Kapitulation Japans flog Carl nach Tokio. Er gehörte einem Team an, das die Auswirkungen der Bombardements kartographierte. Margarida kehrte nach Lissabon zurück. Daniel besuchte sie nicht. Carls Aufenthalt in Japan dauerte nur zwei Monate. Er wollte in Wien nach seiner Mutter sehen, nach seiner Großmutter, seinem Großvater, seiner Schwester.
«Ich schrieb ihm, er solle schnell wieder nach Lissabon kommen. Wien war zerstört, hieß es. Er hatte von seiner Familie nichts mehr gehört, seit er interniert worden war. Er rechnete mit dem Schlimmsten, und er ist einer, der mit sich allein sein muß, wenn ihn das Unglück erreicht.«
Carl schrieb Briefe aus Wien, schrieb, er wisse noch nicht, was er vorhabe. Margarida war wieder allein. Sie besuchte Daniel, und sie lebten wieder zusammen wie Mann und Frau. Daniel fragte nicht, ob sie sich von Carl scheiden lassen und ihn heiraten wolle. Über ihre Ehe sprachen sie nicht. Carl schrieb, er habe sich entschieden, in Wien zu bleiben. Eine Stelle an der Universität war ihm angeboten worden. Er bat sie zu kommen. Wieder zögerte Margarida keinen Augenblick. Sie setzte sich in den Zug.
«Ich habe ihm wieder alles erzählt. Er sagte, er sei mit der Scheidung einverstanden, wenn ich sie wünschte. Aber ich wünschte keine Scheidung. Nicht ein Gedanke daran. Das konnte er nicht verstehen. Und ich habe es eigentlich auch nicht verstanden. Warum fängst du immer wieder etwas mit ihm an, fragte er, wenn du nicht einmal einen Gedanken daran hast, es fortzuführen. Er hatte recht. Carl ist Daniel nie begegnet. Er kannte ihn nicht. Und er wollte auch nicht, daß ich von ihm erzähle. Wenn wir drei zur selben Zeit in einem Zimmer gewesen wären und Carl hätte mir die gleiche Frage gestellt, ob ich mich scheiden lassen will, wäre mir die Antwort nicht so leicht gefallen, das weiß ich. Aber wir waren nie gleichzeitig zu dritt in einem Zimmer.«
Margarida und Carl bezogen eine Wohnung in dem Haus am Rudolfsplatz und richteten sich modern ein. Als das Leben leichter zu werden begann, fuhren sie in den Sommersemesterferien nach Lissabon, verbrachten ein, zwei Monate in der Stadt oder in Coimbra im Haus ihres Vaters, das sie sich mit ihren Geschwistern teilte, oder nach Ericeira ans Meer, wo sie ein Ferienhäuschen besaßen.
Nach zehn Jahren traf sie Daniel zufällig auf der Straße. Er war gerade im Begriff in den Elevador de Santa Justa zu steigen. Er war zusammen mit einer Frau, die trug eine amerikanische Brille und wirkte sehr chic. Er stellte sie Margarida als seine Frau vor. Er erzählte, daß er eine gute Arbeit habe, in der Verwaltung des bakteriologischen Instituts. Sie gaben einander die Hand und verabschiedeten sich wie für immer. Am nächsten Tag wartete sie am Abend vor dem Eingang des Verwaltungsgebäudes in der Travessa do Torel auf ihn. Sie gingen in ein Hotel. Während dieses Sommers trafen sie sich noch mehrere Male. Immer im gleichen Hotel. Diesmal erzählte sie Carl nichts davon. Im September flogen sie und Carl nach Wien zurück.
Bald darauf bekam Carl seine Professur in Innsbruck. Margarida war es, die vorschlug, die Sommer nicht mehr in Portugal zu verbringen. Sie flogen nach Amerika, mieteten ein Auto, fuhren von New York über den Süden nach New Mexico. Oder sie verbrachten die Semesterferien in England oder in Finnland oder blieben zu Hause. Gedanken an Daniel bedeuteten ihr wenig. Erst 1961 fuhren sie wieder nach Lissabon, diesmal zusammen mit mir. Carl hielt seine Gastvorlesung an der neuen Universität.
«Ich habe es wieder getan. Keine Spur von Sehnsucht. Ich hatte nie Sehnsucht nach Daniel gehabt. Wenn du mich fragst: Warum wieder? Einfach nur, weil ich die Möglichkeit dazu hatte? Das kann nicht richtig sein. Weil auch noch etwas anderes in mir war und weil ich die Möglichkeit dazu hatte. Wir hatten uns wieder fast zehn Jahre nicht gesehen. Aber wie ich Daniel kannte, durfte ich damit rechnen, daß sich in seinem Leben nichts geändert hatte. Daß er also immer noch in der Personalabteilung des bakteriologischen Instituts arbeitete. Ich patrouillierte am Nachmittag durch die Travessa do Torel, und es war, wie ich erwartete: Er trat auf die Straße.«