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Sie trafen sich in Hotels. Daniel hatte inzwischen zwei Kinder. Er sei nicht glücklich, sagte er. Er wurde bald fünfzig. Er sagte, ihm sei, als wäre er erst jetzt erwacht. Er habe ein Leben lang geschlafen. Margarida wußte, das hatte alles nichts oder doch nur wenig mit ihr zu tun.

«Wenn ich es wieder zulasse, dachte ich, wird es diesmal gefährlich. Aber ich habe es zugelassen.«

«Warum gefährlich?«fragte ich.

«Für ihn. Und damit auch für mich. Ich habe einen Trieb in mir, Leute zu retten. Er sagte, er habe zwei gute Gründe, sich zu Tode zu trinken: das, was geschehen war, und das, was nicht geschehen war. Er sah besser aus denn je. Ich wußte nicht, was mit mir los war, und ich kann es auch heute nicht beschreiben. Ich war wie unbeteiligt. Aber mir war klar, wenn nicht etwas geschieht, werde ich tun, was unmöglich getan werden darf, und ich werde es in Wahrheit nicht wollen. Nämlich, daß Carl und ich uns trennen. Das meine ich. Als du mit Carl die Woche in São Paulo warst, als dir der liebe Gott erschienen ist, in dieser Woche war Daniel bei mir. In der Rua do Salitre, ja. Zum erstenmal hat er in unserer Wohnung übernachtet. Ich wollte es. Er ist einfach von zu Hause weg. Hat seiner Frau nichts gesagt. Nach zwei Tagen erst hat er sie angerufen. Sie war verrückt vor Sorge. Ich habe sie aus dem Telefonhörer weinen hören.«

Als Carl und ich aus São Paulo zurückkamen, erzählte sie ihm alles. Carl blieb ruhig. Er werde über eine Lösung nachdenken, sagte er.

«Wie ging es weiter?«fragte ich Margarida.

«Irgendwie und nicht. Ich habe Daniel getroffen. Carl wußte es. Und Daniels Frau wußte es auch. Beide haben es akzeptiert. So sah es aus. Sie haben es uns leichtgemacht. Beide. Als Carl und ich nach dem halben Jahr wieder in Innsbruck waren, war es vorbei. Für mich war es vorbei. Ich wollte nie wieder nach Lissabon. Ich bat Carl, die Wohnung aufzugeben. Das hat er getan. Irgendwann kam ein Brief von Daniels Frau. Darin stand, daß Daniel gestorben sei. Ich weiß nicht, woran. Das hat sie nicht geschrieben. Und ich habe mich nicht erkundigt. Ich weiß auch nicht, wo er begraben liegt.«

Carl aß einen Bratapfel, ich drei. Wir saßen vor dem Kamin. Schließlich sagte er und sah mich dabei an:»Margaridas Geschichte kennst du ja. Sie hat sie dir ja selbst erzählt. Ich weiß es. Es gibt sicher einiges hinzuzufügen. Einiges, das sie selbst nicht wußte. Auch entspricht ihre Version nicht zur Gänze der Wahrheit. Aber nicht heute. Heute abend ein anderes Thema.«

Zweiter Teiclass="underline" Europa

Fünftes Kapitel

1

Im Mai 1962 besuchte der Dominikanerpater Frederik Braak im Auftrag der Congregatio pro Causis Sanktorum Carls Großkusine Kuni Herzog in ihrem Haus in Göttingen. Pater Braak führte mit der Achtzigjährigen ein langes Gespräch — 12 Tonbänder à 20 Minuten — über die Philosophin und Pädagogin Edith Stein. Aus den Erinnerungen von Kuni Herzog wollte die Kongregation im Prozeß um die Seligsprechung Erkenntnisse gewinnen, die sich in Argumente pro oder contra fassen ließen. Das Interview nahm vor allem Bezug auf den Sommer und den Herbst 1914, in dem die beiden Frauen viele Stunden miteinander verbracht hatten. Die Aussagen von Kuni Herzog hätten, so sickerte später durch — erzählte mir Carl —, in der Kongregation zu einer heftigen Debatte geführt. Es sei ernsthaft diskutiert worden, der Gläubigenschar in der Person von Edith Stein eine Heilige zu geben, an die sich Suizidgefährdete in ihrer Not wenden könnten.

Edith Stein und Kuni Herzog trafen einander zum erstenmal in der Konditorei Cron und Lanz in der Weenderstraße. Edith Stein war damals dreiundzwanzig, Kuni Herzog bereits zweiunddreißig. Es war Sommer. Und alles war anders. Ende Juni waren der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine morganatische Gattin Sophie in Sarajewo ermordet worden, und das hatte, wie sich Kuni Herzog ein halbes Jahrhundert später gegenüber ihrem Interviewer ausdrückte, zur Folge,»daß der kleinste Fritz plötzlich der Meinung war, es könne nicht mehr so weitergehen wie bisher«.

Frederik Braak schrieb die Bänder ab und schickte einen Durchschlag an Kuni Herzog, damit sie das Interview autorisiere. Kuni Herzog rief bei Carl an — ich kann mich sehr gut daran erinnern, ich war seit einer Woche in Innsbruck und kam gerade aus meiner neuen Schule in mein neues Zuhause in die Anichstraße, wo wegen des Telefonats höchste Aufregung herrschte —, und Carl fuhr noch am gleichen Tag nach Göttingen. Er ließ die hundertfünfzig Seiten in einem Schreibbüro abtippen und bat seine Tante, von der Kongregation Kopien der Bänder zu fordern, und setzte auch einen entsprechenden Brief an Pater Braak auf. Antwort kam nie. Die Bänder werden wohl in einem Archiv in Rom liegen. — Eine Fotokopie der Abschrift des Interviews ist in meinem Besitz, Carl hat sie mir gegeben, verschiedene Stellen hatte er mit Rotstift unterstrichen. Wenn ich im folgenden Kuni Herzog erzählen lasse, gebe ich den Wortlaut des Interviews wieder.

Frederik Braak:»Wie hat Edith Stein reagiert, als sie vom Ausbruch des Krieges erfuhr?«

Kuni Herzog:»Sie hat sich darüber gefreut. Hat sie mir erzählt. Sie sei an dem besagten ersten August mit einer Freundin am Feuerteich spazierengegangen. Es war ein Samstag — das Fräulein Stein behielt solche Kleinigkeiten, ich wußte mein Lebtag lang nicht, was für ein Tag ist. Was ist heute für ein Tag?«

«Dienstag.«

«Und anschließend seien sie durch die Stadt zur Jüdenstraße gegangen, weil sie sich bei dem Zeitungshäuschen dort die Mittagsausgabe der Berliner Zeitung besorgen wollten. Es habe aber bereits kein Exemplar mehr gegeben. Zufällig kam der Dr. Reinach mit Gattin des Weges, ebenjener Dr. Reinach, der uns beide später zusammenbrachte, und der hatte ein Exemplar der Berliner Zeitung, und nun konnte sie es lesen. Zur Feier des Tages habe sie sich eine Tüte Kirschen gekauft, und die hätten sie zu viert weggeputzt. Das Fräulein Stein fragte den Dr. Reinach, ob er nun auch in den Krieg ziehen müsse, und er habe geantwortet: Nicht müssen, dürfen. Nun hat Frau Reinach, ebenfalls zur Feier des Tages, ebenfalls eine Tüte Kirschen gekauft, und die hätten sie ebenfalls weggeputzt, und Professor Reinach habe gesagt, die Kirschen von Fräulein Stein hätten besser geschmeckt, obwohl er ja wußte, daß beide Tüten beim selben Obststand neben dem Zeitungshäuschen gekauft worden waren. Ich fragte Fräulein Stein, wie denn Frau Reinach darauf reagiert habe. Sie wußte gar nicht, was ich meinte. ›Der ist doch verliebt in Sie‹, sagte ich. Sie ist nicht einmal rot geworden. ›Meinen Sie?‹ hat sie gefragt. ›Hat Frau Reinach Sie zornig angesehen?‹ fragte ich. Sie überlegte. ›Kann sein‹, sagte sie, ›und was hätte das zu bedeuten?‹ ›Daß sie eifersüchtig ist‹, sagte ich. Und sie: ›Aber warum denn?‹ Sie spielte mir nichts vor. Fragte: ›Warum denn eifersüchtig?‹ ›Ja‹, sagte ich, ›schauen Sie doch einmal Ihre hübsche Larve in einem Spiegel an!‹ Sie dachte wieder eine Weile nach und sagte: ›Kann sein, kann aber auch nicht sein.‹

Als wir uns kennenlernten, war der Krieg bereits einen Monat alt, und so eine wie ich fragt: ›Wer geht denn gegen wen?‹ Sie lachte laut und lang, verschränkte die Arme vor ihrem Bauch und beugte sich vor, wie es Schulmädchen tun, und ich dachte: Was für ein fröhlicher Mensch! Sie wußte alles, bis in die Einzelheiten hinein, hat mir Schlachtpläne erläutert, militärische Rangordnungen erklärt und auch, warum Deutschland unbedingt Rußland den Krieg erklären, in Belgien einmarschieren und Frankreich angreifen muß, wenn der österreichische Thronfolger von einem Serben ermordet wird, und hat noch alles mögliche gefaselt von innerer Reinigung und vom Freiglühen eines unzerstörbaren Kerns. Ich fragte sie, ob sie glaube, daß es lange dauere, also ob es sich für mich rentiere, mich mit dem Krieg zu beschäftigen. Nicht daß ich mir all die Mühe auflade und die Zeitungen studiere und mir Meinungen einhole und so weiter, und wenn ich meinen ersten gescheiten Satz dazu sagen könnte, ist der Krieg fertig.«