Kuni Herzog war als junge Frau, wie sie sich vor Pater Braak selbst beschrieb, reich, launisch, egozentrisch, ignorant, arrogant und tyrannisch gewesen. Sie hatte seit ihrem Abitur alles mögliche angefangen und alles mögliche bis zu einem sinnlosen Ende durchgehalten. Ausgerechnet in dem Sommer, als der Krieg ausbrach, hatte sie beschlossen, mit dem Studium der Philosophie zu beginnen. Sie verband damit keinerlei Berufsabsichten, wollte lediglich, wie sie sich ausdrückte,»meinen Gram und meine Langeweile mit Nachdenken über Ideen vertreiben«. Sie war eine Frau, von der gesagt wurde, wie schön sie als Kind gewesen sei —»eine barmherzige, aber allzu durchsichtige Umschreibung für Häßlichkeit«. Alles an ihr schien zu groß — die Füße, die Arme zu lang, der Hals zu hoch und zu rot und wie aus dürren Strängen geflochten, und vor allem der Mund viel zu breit. Und einen schweren Gang hatte sie und an gar nichts eine Freude. Und zu gar nichts hatte sie Zutrauen.
«Es heißt, frühreife Kinder bringen später nichts zustande. Man sagte mir immer, ich hätte keinen Geschmack. Irgendwann habe ich mich entschlossen, nur noch schwarze Klamotten zu tragen. Schwarz paßt zu allem. Sogar zu mir.«
Sie lebte zusammen mit ihrer Mutter Franziska, verwitwete Herzog, geborene Alverdes — Carls Großtante» Franzi«. Ihr Vater hatte eine Textilfabrik hinterlassen. Während des Deutsch-Französischen Krieges war ihm mit Uniformschneiderei ein Vermögen zugewachsen. Nun wurde der Betrieb von Prokuristen umsichtig geführt. Mutter und Tochter hatten nichts zu tun, den lieben Tag über nichts zu tun. Erst hatten sie sich noch gestritten, und der Streit hatte ihr Leben, den Tag, die Stunde ein wenig zu gliedern vermocht; hatte ihre Zeit in böse Erinnerung und böse Erwartung unterteilt. Schließlich aber stritten sie nicht mehr. Und es wurde still. Sie sprachen kaum noch, gingen leiser als zuvor, huschten auf Strümpfen durch die Korridore, legten die Türen mit provokanter Behutsamkeit ins Schloß. Die Dienstboten kündigten, neue wurden eingestellt, die blieben nur kurze Zeit.
Eines Tages besprachen Mutter und Tochter in einer Offenheit, vor der ihnen mehr ekelte als vor allem anderen in der Welt, die Möglichkeit eines gemeinsamen Selbstmords. Jede sollte es in ihrem eigenen Zimmer tun. Damit keine der anderen dabei zuschauen müsse. Aber zeitgleich. Nur Ekel sei in diesem Gedanken gewesen, kein bißchen pathetische Würze. Letztere war erhofft worden. Daß wenigstens der Gedanke an den Tod einen Reizimpuls für das Leben lieferte. Sie schämten sich, als hätten sie einander bei einer abstoßenden Tätigkeit ertappt.
Frage von Pater Braak:»Erzählten Sie Edith Stein davon?«
«Nein. Kann sein, daß ich eine Andeutung fallenließ. Über den Selbstmord im allgemeinen — wenn man so einen Ausdruck gebrauchen darf —, darüber sprachen wir. Darüber hat damals jeder geredet, jeder, der etwas auf sich hielt.«
«Edith Stein auch?«
«Sicher.«
«Auch, daß sie selbst schon daran gedacht hatte?«
«Nein, das nicht. Nur allgemein. Ich auch nur allgemein. Über jenes peinigende Gespräch zwischen meiner Mutter und mir habe ich ihr natürlich nichts erzählt.«
Kuni Herzog zog von zu Hause aus, mietete sich eine elegante Wohnung in der Alleestraße beim Leinekanal, Flügeltüren, französische Fenster. Einmal in der Woche besuchte sie ihre Mutter für eine Stunde. So war die Abmachung. Ihr Waffenstillstandsabkommen. Kontrolle und Sorge zugleich.
«Ich war neugierig, ob meine Mutter inzwischen verrückt geworden war. Ja, tatsächlich. Und sie war neugierig, ob ich verrückt geworden war. Und immer ihre erste Frage: ›Was sagt man draußen über mich?‹ ›Nichts. Kein Mensch redet über uns.‹ ›Das glaube ich nicht.‹ Einmal bildete sie sich ein, immer noch viele liebe Freunde zu haben, dann wieder argwöhnte sie, eine Beute giftiger Zungen geworden zu sein. ›Wir beide, Mutter‹, versuchte ich, ihr die Lage zu erklären, ›wir beide sind ein Paar, von dem man sich tunlichst fernhält. Niemand interessiert sich für uns, weder im guten noch im schlechten.‹«
So saßen Mutter und Tochter an den ausgehandelten Abenden in der Küche, die eine der anderen ein hämisch finsterer Spiegel. Die Ellbogen auf der Tischplatte. Wie Arbeiter nach Feierabend. Erstatteten einander Bericht über die Seelenarbeit der vorangegangenen Woche. Die eine eifersüchtig auf die andere. Siegerin war, die es schlechter erwischt hatte. Aber diese Besuche schürten auch eine merkwürdige Lust in den beiden, nämlich die romantische Vorstellung, sie seien vom Unglück Bevorzugte.
«Das Romantische aber«, sprach Kuni Herzog in ihrem feinen Singsang dem Dominikanerpater aufs Tonband,»ist eine kurz bemessene Angelegenheit. Es entsteht aus einem Defizit an Wissen. Wer romantisch bleibt, obwohl er dazulernt, der wird ein Ungeheuer. Wer nicht dazulernt, aus dem wird ein Narr. Wir beide, meine Mutter und ich, wir brachten das Kunststück zuwege, Narren und Ungeheuer zugleich zu werden. Nach einem Monat schon kehrte ich an den Abenden nicht mehr in meine Wohnung in der Alleestraße zurück, ich zog wieder zu ihr, wieder in mein Mädchenzimmer.«
Nicht daß sie glaubte, die Philosophie könne dem Leben einen Sinn geben. Sie sah in ihr nichts weiter als eine zeitvertreibende Beschäftigung, die ohne körperliche Anstrengung durch schieres Denken bewältigt werden könnte. Kuni Herzog suchte Dr. Reinach auf. Der war Privatdozent und galt als Koryphäe der neuen Philosophie. Er war die rechte Hand von Edmund Husserl. Wenn Husserl Gott war —»was seine Jünger zwar geleugnet hätten, woran sie aber glaubten«—, dann war Reinach sein Prophet. Außerdem verwaltete er die Finanzen der Philosophischen Gesellschaft, eines privaten Zirkels, der aus eigenem Vermögen neben den universitären Veranstaltungen Seminare abhielt, wozu Vortragende aus dem weiten Europa eingeladen wurden (zum Beispiel der damals in akademischen Kreisen geächtete Max Scheler). Kuni Herzog versprach, die Gesellschaft finanziell zu fördern, wenn ihr Dr. Reinach einen Vergil auf dem Weg durch die Philosophie vermittle, den sie selbstverständlich gesondert bezahlen wolle. Dr. Reinach nannte ohne Zögern die Studentin Edith Stein. Erstens könne die junge Frau das Geld brauchen, zweitens sei, darauf verwette er seine Erstausgabe von Hegels Logik, im ganzen Reich eine Bessere für diese Aufgabe nicht einmal vorstellbar. — Man vereinbarte ein Treffen bei Cron und Lanz.
Edith Stein arbeitete an ihrer Staatsexamensarbeit, die sie zu einer Dissertation auszuweiten gedachte: Das Problem der Einfühlung aus phänomenologischer Sicht. Als Kuni Herzog bemerkte, da sei das Fräulein Dissertantin bei ihr genau an der richtigen Adresse, an ihr könne sie praktische Studien vornehmen, denn es werde wohl eine Menge an Einfühlung notwendig sein, um zu kapieren, warum es einer Frau, der es so gut gehe, so schlecht gehe, antwortete Edith Stein, die die gallige Ironie entweder nicht verstand oder aber ignorierte, Einfühlung sei in ihrer Arbeit keine psychologische, sondern eine erkenntnistheoretische Kategorie, nämlich im Sinne von Husserls These (er — wer sonst — war ihr Doktorvater), daß objektive Außenwelt nur intersubjektiv wahrgenommen werden könne, wobei sich die wahrnehmenden Subjekte weder lieben noch ehren, nicht einmal kennen müssen; ja, daß Einfühlung, so verstanden, sogar über den Tod hinaus stattfinden könne, einerseits zurück in die Vergangenheit —»wenn ich Platons Dialoge lese, fühle ich mich über zweieinhalbtausend Jahre hinweg in seine Personen ein und gelange dadurch zu Erkenntnissen über ihre Wirklichkeit«— als auch vorwärts in die Zukunft gerichtet —»sollte dereinst sich jemand finden, der meine Dissertation, sollte sie je fertig werden, lesen wird …«.