«Entweder sie ist depressiv oder kalt wie ein Wetzeisen«, berichtete Kuni Herzog ihrer Mutter. Die hielt das für eine höchst erotische Mischung, und sie lud das Fräulein Stein zu einem Abendessen in ihr Haus ein, schriftlich.
Kuni Herzog:»Ich gab die Einladung weiter, und das Fräulein Stein fragte mich, was für eine Weltanschauung meine Mutter habe. Ich sagte: Meine Mutter bekennt sich zu einer Art skeptischem Naturalismus als Lebensphilosophie. Was ich darunter verstehe, fragte sie. Nun ja, sagte ich, sie ist nicht fromm und sieht in den Menschen wilde Tiere.«
2
An diesem Abend lernte Carl Edith Stein kennen.
Er war seit zwei Wochen bei seinen Tanten in Ferien und hatte bereits genug. Die Hysterie, mit der die beiden in jedem seiner Worte, in jeder seiner Gesten, bereits in jedem seiner Blicke einen Ausdruck des wahren, ungekünstelten, unverdorbenen alpinen Lebens zu erkennen wähnten, auf den sie sich stürzten, den sie beredeten und zerlegten, als ließe sich daraus ein rettendes Elixier destillieren, bewirkte, daß er selbst anfing, sich zu beobachten, und davon wurde er grundunglücklich, weil er alles mögliche an und in sich entdeckte, nur nicht seinen gewohnten Denk- und Gesprächspartner. Nach dem ersten Blickwechsel mit dem Fräulein Stein wußte er, sie war auf seiner Seite. Seine Tanten hatten ihm extra für diesen Abend einen kurzärmeligen königsblauen Matrosenanzug besorgt — solche Kleidungsstücke für Kinder hatten in diesen Wochen patriotisch reißenden Absatz, weil es inzwischen ja auch gegen die Seemacht England ging. Fräulein Stein saß allein im Eßzimmer am Tisch. Mutter und Tochter waren schnell in die Garderobe geeilt, um irgendwelche Striche in ihrem Gesicht nachzuziehen. Sie trug eine weiße Bluse über einer ähnlich matrosenblauen Weste, die beiden Krägen waren akkurat übereinandergelegt. Ihr Oberkörper wirkte etwas eingesunken, die Hände hielt sie im Schoß. Wohl fühlte sie sich gewiß nicht.
Als sie ihn hinter sich hörte, drehte sie sich um und ergriff mit beiden Händen die Lehne ihres Sessels.»Du bist Carl Jacob«, sagte sie und lächelte ihn an.
«Carl Jacob Candoris«, stellte er sich vor und vollführte einen perfekten Diener.»Guten Abend, Fräulein Stein.«
«Setz dich neben mich!«lud sie ihn ein.»Damit ich nicht so allein hier bin. Und sag du zu mir. Ich möchte, daß du Edith zu mir sagst.«
«Lieber nicht, wenn meine Tanten anwesend sind«, sagte er.
«Und warum nicht?«
«Ich glaube, es gehört sich nicht für mich.«
«Das sehe ich anders. Ich bin näher bei dir als bei deinen Tanten. Was das Alter betrifft, meine ich. Wie alt bist du?«
«Acht Jahre.«
«Und ich bin dreiundzwanzig. Gerade einmal fünfzehn Jahre liegen dazwischen. Das ist nicht viel.«
«Tante Kuni ist aber zweiunddreißig. Zwischen Ihnen und ihr liegen nur neun Jahre.«
«Das ist richtig. Aber du hast den Plural verwendet, du hast gesagt, du möchtest mich vor deinen Tanten nicht duzen. Also mußt du ihr Alter zusammenzählen.«
«Vielleicht darf ich Sie morgen duzen, das würde ich gern«, sagte er.
«Gut«, flüsterte sie, denn die Tanten waren hereingekommen,»morgen.«
Tante Franziska ließ eine lange Speisenfolge auffahren. Dem Dienstmädchen hatte sie ausdrücklich verboten, zu sprechen oder dem Gast in die Augen zu schauen. Sie hatte sich fein hergerichtet und war aufgedreht und zappelig wie ein Backfisch. Von Anfang an führte sie das Wort, und sie richtete es nur an das Fräulein Stein. Sie sah mit ihren Mitte fünfzig immer noch gut aus, abgesehen von den diabolischen Augenringen, die sie mit Schminke sogar noch betonte, weil sie der Meinung war, Schönheit ohne eine Ahnung von Häßlichkeit sei langweilig. Sie trug ein Kleid aus dunkler Seide, das, wenn es sich in Falten legte, in alle möglichen Farben spielte. Um den Saum war eine Fransenborte genäht, fein wie Flaum, die sich beim kleinsten Windhauch bewegte, was ihre Tochter obszön fand. Das Kleid stand ihr fabelhaft. Vornehm und verheert sah sie darin aus, und genau so wollte sie aussehen. Sie hatte ihrem Busen von unten her etwas nachgeholfen, das war damals nicht Mode, aber um Mode kümmerte sie sich nicht, sie wußte, was die Männer mochten; und was die Frauen mochten, wußte sie ebenfalls. Das war eines ihrer Lieblingsthemen: Frauen wollen das gleiche wie Männer, sie geben es nur nicht zu, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit.
Beim Essen ging es hauptsächlich um den Krieg. Zu Kunis Erstaunen zeigte sich ihre Mutter mit militärischen und politischen Details durchaus vertraut, so daß sie ohne Peinlichkeit ihrem Gast Paroli bieten konnte; darauf kam es ihr nämlich an: durch eine im Grundton zynische, in der Melodie possierliche Gegenrede zwischen ihr und dem Fräulein Stein eine Spannung zu erzeugen, wobei sie den Bogen in der Hand hatte — und auch die Pfeile, falls es darauf ankam, jemanden abzuschießen. Sie habe ja gar nichts gegen den Krieg, sagte sie, nur sollte er intelligent geführt werden.»Warum haben wir den Belgiern denn nicht einfach Miete für die Straßen bezahlt, auf denen unsere Soldaten nach Frankreich marschieren wollen?«—»Wir haben ihnen ja Geld angeboten«, entgegnete das Fräulein Stein,»aber sie wollten es nicht nehmen.«—»Vielleicht hat man ihnen zu wenig geboten.«—»Man darf sich nicht erpressen lassen.«—»Aber vielleicht hätten die Belgier Freude daran gehabt, mit uns zu handeln. Wenn man ein Angebot sofort annimmt, ist das auch eine Art von Unhöflichkeit, finde ich.«—»Aber warum überhaupt Belgien«, warf Kuni ein.»Hätte man nicht direkt in Frankreich einmarschieren können?«—»Nein, hätte man nicht«, sagte die Mutter scharf wie» Halt die Klappe!«— Das Fräulein Stein erklärte:»Weil die Franzosen ihre Grenze zu uns so fest gemauert haben.«—»Die tun nämlich nur so flatterhaft«, schäkerte die Mutter weiter,»in Wahrheit sind sie prüde wie ein Wäschekorb.«—»Und warum überhaupt gegen Frankreich?«beharrte Kuni. — »Warum nicht gegen Frankreich hätte die richtige Frage gelautet, wenn wir in irgendeine andere Richtung marschiert wären«, bekam sie von ihrer Mutter zurück.»Habe ich nicht recht?«—»Eigentlich gegen Rußland«, korrigierte Fräulein Stein schüchtern.»Nur müssen wir zuerst den Rücken frei haben. «Und leise fügte sie hinzu, sie wolle sich für ein Lazarett melden, wenn es im Osten losgehe. Kuni kicherte und erntete dafür einen stummen Verweis ihrer Mutter, eine Handbewegung, als wollte sie eine Tür zudrücken.
«Das ist sehr tapfer von Ihnen«, rief Tante Franzi mit schicksalhaft vibrierender Stimme aus:»Aber! Aber! Aber!«Sie erhob sich, nahm die Weinkaraffe, ließ ihr Kleid fliegen, umrundete den Tisch und trat hinter ihren Gast.»Zunächst, liebes Fräulein Stein, machen Sie mir die Freude und bleiben Sie heute nacht in meinem Haus. Zur Zeit streichen merkwürdige Individuen durch die Straßen, die meinen, sich schon draußen auf dem Schlachtfeld zu befinden. Und viele fühlen sich zu manchem berechtigt, was ihnen draußen Ehre, hier aber das Zuchthaus einbringen würde. Tun Sie mir den Gefallen, und markieren Sie nicht die Heldin!«
Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte sie sich an das Dienstmädchen, das gerade den Nachtisch hereinbrachte, und befahl ihm, das Gästezimmer herzurichten. Sie hatte wohl mit Widerspruch seitens ihres Gastes gerechnet und sich auf eine neckische Verhandlung eingestellt, und als der Widerspruch ausblieb, wußte sie nicht vor und zurück, und nun stand sie zwischen Rosentapete und glitzernder Tafel, regielos und beschwipst. Carl hatte Mitleid mit ihr, so sehr, daß er hätte weinen wollen. Ihr kurzes, bleifarbenes Haar war von zwei Scheiteln gespalten, in der Mitte streng nach hinten gezogen, an den Seiten zu engen Wellen onduliert, die aussahen, als wären sie aus dem Schädel gemeißelt. Es war still geworden. Auf ihrem Gesicht erschien ein Ausdruck des Wissens um das Ungeheuerliche. Sie reckte den Kopf, Carl guckte in ihre langgestreckten Nasenlöcher und in die unruhigen Augen mit der blauen, dunkel umrahmten Iris, und ihm war, als ziehe eine unsichtbare Hand den bizarren Glanz von dieser Person ab — erst von ihr, dann von den Wänden, von den Böden, von der Oberfläche der imperial gedrechselten Stuhllehnen, dem Goldrandporzellan, den silbernen Messerbänkchen, den Bleikristallgläsern, dem Bleikristalllüster; und darunter kam Abgewohntes, Abgelebtes, Ziel- und Sinnloses zum Vorschein, eine alles durchwaltende Fadheit, schlaues Mittelmaß, eben Ungeheuerliches.