«Wir zwei wissen genau, wie wir sind«, sagte Kuni.
Da barst das verspannte Gesicht unter den Tränen, und der lange Kummerfaden spulte sich ab. Kuni wartete. Das Weinen dauerte und würde wohl länger dauern. Sie ekelte sich ein wenig vor ihrer Mutter. Vor ihrer Unterlippe zum Beispiel — weich und schwer, die nach vorne fiel, wenn sie den Kopf neigte, und die Zähne des Unterkiefers freigab, das Zahnfleisch, mehr blau als rot. Auf dem Bett lag ein Blatt Briefpapier, zur Hälfte beschrieben. Kuni hatte nicht die Geduld, die kleinlich verkrampften Buchstaben zu entziffern. Ähnliche Briefe hatte ihre Mutter schon ein halbes Dutzend geschrieben. Sie setzte sich neben sie und legte den Arm um ihre Schultern. Sie hätte ihr eine deutlichere Antwort geben sollen. Aber es bestand kein ausreichender Grund für ein Resümee, sie war zweiunddreißig, und es war die Erfahrung nicht wert gewesen. Sie sah sich im Spiegel, der dem Bett gegenüber an der Wand hing — so oft hatte sie ihrer Mutter gesagt, es sei eine tagverderbende Idee, dorthin einen Spiegel zu hängen —, ihr Gesicht hatte einen Ausdruck steinerner Nichtüberraschung. Sie wischte mit der Hand über die Schulter der Mutter, die im Spiegelbild durch ihre eigene Schulter verdeckt war. Sie hatte kein Gespür mehr für Fairneß, zu müde war sie, sogar für das schlechte Gewissen. Wer nicht an Gott glaubt, tut selbst in der Not gut daran, nicht zu ihm zu beten. Es reichte nicht einmal für eine metaphysische Phantasie, wie sie Vierzehnjährige einander ins Poesiealbum schreiben. Sie hatte auch kein Bedürfnis nach klarer Sicht auf ihr Gewordensein, und die philosophischen Begriffe, die sie in den letzten Wochen in ihrem Cerebrum gehortet hatte, boten keinen Trost, schürten aber auch keinen kathartischen Schmerz. Gedanken, die gar nichts zu tun hatten mit dem, was sie hier vor sich sah, tappten in ihrem Kopf herum wie kranke Vögel. Daß es schön gewesen wäre, ein Studium beendet zu haben; daß die Wohnung in der Alleestraße einmal wenigstens ordentlich durchgeputzt werden müßte; ob ein Bajonett in erster Linie nur Zierde oder doch zum Töten da sei … — Das Weinen ihrer Mutter endete mit einem leisen, spitzen Schrei.»Der war wie eine glühende Nadel, wie um eine Öffnung zu schaffen, durch die das Leben einströmen könnte. Falls das Leben dazu Lust haben würde.«
Kuni Herzog zu Pater Frederik Braak:»Nein, ich hatte kein Mitleid mit ihr. Sie hatte ja auch keines mit mir. Ich sah nur die Scheibe, auf der wir beide uns drehten. Daß wir keinen Mann hatten. Daß wir uns nicht einmal mehr einen wünschten. Die Sterne am Nachthimmel waren uns chaotisch ausgestreute Beweise eines kosmischen Irrsinns. Mit gar nichts waren wir verwachsen, mit unseren alten Wünschen nicht mehr, nicht mit irgendeiner gesellschaftlichen Rolle, nicht einmal mit der häuslichen Möblierung. Kein Fetzen Anmut war uns geblieben.«
So saßen Mutter und Tochter nebeneinander und beschlossen, es zu tun. Diesmal unbedingt. Nicht getrennt in getrennten Zimmern. Zusammen. Ohne hoffnungsvolle, pathetische Pose. Einfach wie eine lästige Erledigung. Jetzt. Nicht morgen. Nicht irgendwann. Jetzt.
«Und dann?«fragte Pater Frederik.
«Dann«, sagte Kuni Herzog,»stand auf einmal das Fräulein Stein im Zimmer.«
«Auf einmal stand sie im Zimmer? Was hat sie geweckt?«
«Das weiß ich nicht.«
«Sie meinen, sie hat Ihre Not und die Not Ihrer Mutter gespürt?«
«Ja, genau das meine ich.«
«Und was sagte sie?«
«Gar nichts. Sie stand einfach nur in der Tür. Trug die Kleider, die sie getragen hatte. Als wäre sie gar nicht im Bett gewesen. Die Arme hingen an ihren Seiten herab. So stand sie. Eine Minute vielleicht. Blickte uns an, drehte sich um und verließ das Haus. Ich habe nie mit ihr darüber gesprochen.«
«Aber ihr Erscheinen hat etwas bewirkt, das wollen Sie sagen? Bei Ihnen und Ihrer Mutter.«
«Ich möchte mich nicht aufspielen, das glauben Sie mir doch. Ich weiß aber: Das Fräulein Stein hat uns geheilt. Meine Mutter und mich.«
«Was meinen Sie mit geheilt?«
«Daß kein Wille zum Tod mehr in uns war.«
«Sie meinen, das war ein Wunder?«
«Es war ein Wunder.«
«Das kann man, denke ich, nicht so ausdrücken.«
«Ich will das nicht beurteilen«, sagte Kuni Herzog.»Helfen Sie mir bei einer besseren Formulierung. Ich bin eine alte Schwarte und könnte bestenfalls Shakespeare zitieren.«
«Wie meinen Sie?«
«Es war ein Scherz.«
«Sie wissen«, sagte Pater Frederik,»die Kongregation ist ausschließlich an einem Wunder interessiert. Ein Wunder muß leider unbedingt sein.«
«Es war gewiß ein Wunder«, wiederholte Kuni Herzog.
3
Carl kommt in den Erinnerungen von Kuni Herzog gar nicht vor. Pater Frederik Braak ging davon aus, daß an jenem Abend nur die drei Frauen anwesend waren — Franziska Herzog, ihre Tochter Kuni und Edith Stein. Seine Tante, sagte Carl, habe das ihm gegenüber damit gerechtfertigt, daß die Erwähnung seiner Anwesenheit die Sache ihrer Meinung nach nur verkompliziert hätte. Was für eine Sache denn, habe er sie gefragt. Sie meine damit ihren Beitrag zur Seligsprechung des Fräulein Stein. Kuni Herzog schämte sich vor Pater Frederik Braak, daß sie und ihre Mutter ein Kind in ihre Eskapaden hineingezogen, daß sie in ihrem einsamen Egoismus keine Rücksicht genommen hatten. Sie fürchtete, damit die Glaubwürdigkeit ihrer Argumente aufs Spiel zu setzen. Soll man im Prozeß um eine Seligsprechung jemanden als Zeugen vorführen, der nicht einmal die primitivste menschliche Verpflichtung, nämlich die gegenüber einem Kind, zu erfüllen gewillt oder in der Lage ist? Deshalb hat Kuni Herzog die Geschehnisse der Nacht» verkürzt«, wie sich Carl mit gekünstelter Bitterkeit kichernd ausdrückte.
«Übrigens«, eröffnete er seine Version der Geschichte,»ist Edith Stein nicht aufgewacht, weil sie im Schlaf die Not meiner Tanten gespürt hat. Das ist Quatsch. Sie ist aus dem gleichen Grund aufgewacht wie ich. Und ich war vor ihr unten.«
Carl erwachte von einem lauten Krach. Irgend etwas war umgefallen. Glas war zersplittert. Jemand schrie. Er lief über die Treppe hinunter, hinein in das langgestreckte Falsett von Tante Franzi, das nun das Haus erfüllte. Es drang aus dem Badezimmer. Hinter sich hörte er Fräulein Stein, sie rief seinen Namen. Sie war schnell in ihre Sachen geschlüpft, und während sie über die Treppe hinunterlief, knöpfte sie sich die Ärmel ihrer Bluse zu. Unten im Flur erwischte sie ihn, hielt ihn fest. Er solle sich nicht von der Stelle rühren, befahl sie ihm. Sie sprach knapp, bewegte sich kantig, als wäre sie in einem dienstlichen Einsatz und nicht erst vor einer halben Minute aus dem Schlaf gerissen worden.»Tu, was ich dir sage, ich werde dich brauchen!«Sie drückte ihn in die Nische, wo der Schirmständer stand. Hier solle er auf sie warten, legte ihren Finger auf seinen Mund. Sie riß die Badezimmertür auf. Carl sah das Entsetzen in ihrem Gesicht, und nun trat er doch neben sie und schaute ebenfalls ins Badezimmer. Das hohe Regal, in dem die Handtücher und die vielen Toilettensachen aufgereiht waren, war umgefallen und auseinandergebrochen, die Regalbretter lagen verstreut auf den Kacheln, dazwischen Scherben, Fläschchen, Cremedosen, Bürsten, Kämme, Wattebäusche, Seifenschalen, Lockenwickler, eine Brennschere. Tante Kuni stand nackt mitten im Badezimmer, ein Streifen Blut über der Brust, dem Bauch, der Leiste, wo er auf der nassen Haut ausebbte. Sie hatte ein Handtuch um einen Unterarm gewickelt, der Stoff war blutdurchtränkt, Blut tropfte auf den Boden. Die Badewanne war angefüllt mit rotem Wasser. Darin saß Tante Franzi, auch sie nackt, schreiend, einen Arm erhoben, aus dem Puls quoll Blut, färbte den Arm auf seiner ganzen Länge bis in die Achselhöhle. Als Tante Kuni das Fräulein Stein und neben ihr Carl im Schlafanzug sah, fing auch sie an zu schreien.»Mama! Mama! Mama!«schrie sie.»Helft der Mama!«Fräulein Stein schob mit dem Fuß die Regalbretter beiseite, warf Tante Franziska ein Handtuch zu.»Ruhe!«herrschte sie die beiden an. Sie hob zwei Glasfläschchen auf, die nicht zerbrochen waren, drückte sie Carl in die Hand.»Laß kaltes Wasser darüberlaufen!«Sie half Tante Franzi aus der Wanne, drückte das Handtuch auf ihren Unterarm.»Sind die Flaschen kalt? Füll sie mit kaltem Wasser auf!«Sie betrachtete die Wunden über den Handgelenken. Tante Kuni hatte nicht so tief in die Haut geschnitten wie ihre Mutter. Fräulein Stein preßte die kalten Fläschchen, die ihr Carl reichte, auf die Wunden.»Halten Sie das, drücken Sie das fest darauf, und heben Sie den Arm über den Kopf!«Tante Franzi hatte zu schreien aufgehört, sie setzte sich auf den Rand der Badewanne. Blaue Äderchen verästelten sich über ihre Oberschenkel; im Badezimmerlicht sah die Haut gelb aus. Tante Kuni setzte sich neben ihre Mutter, blickte apathisch vor sich nieder, auch sie den Arm über ihrem Kopf.