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Er betrat die Bäckerei, die Klingel über der Tür wurde angeschlagen, Herr Kasimir kam aus der Backstube hinter dem Laden, ein Mann mit einem engen Kiefer und Geheimratsecken bis weit in den Schädel hinauf ins graue Haar hinein. Er beugte sich über den Tresen und fragte — genau wie Carl erwartet hatte —, warum er heute schon so früh unterwegs sei, und fragte weiter — wie Carl ebenfalls erwartet hatte, weil er es ihn jeden Morgen fragte —:»Na, sag mir, junger Mann, bist du stolz, daß dein Vaterland an der Seite unseres großen Willem steht?«

«Sehr stolz bin ich«, antwortete er und verkniff sich, was er sich an jedem Morgen, seit Krieg war, verkniffen hatte, nämlich daß es, wenn man genau sein wollte, ja der deutsche Kaiser war, der an der Seite des österreichischen Kaisers stand, und nicht umgekehrt, und sagte statt dessen:»Heute zwei Brötchen mehr, bitte.«

«Hat man nächtlichen Besuch gehabt?«

«Ja.«

«Noch eine Tante?«

«Ja.«

«Muß ein Ärger sein für einen jungen Mann wie dich mit so vielen Frauen.«

«Ziemlich.«

«Aber die kriegst du schon in die Zange, stimmt’s?«

«Stimmt.«

Und dann gab ihm Herr Kasimir eines seiner berühmten Karamelbonbons mit Schokoladeüberzug.

«Ich habe später nachgerechnet«, sagte Carl,»und heraus kam, daß ungefähr zur selben Zeit mein Vater bei Lemberg fiel. Vielleicht gerade an einem dieser herrlichen Nachmittage, als mir Edith Stein all diese stummen Köpfe zeigte, die Friedrich Blumenbach in seinem Akademischen Museum gesammelt hatte und die mich so tief beeindruckten; geträumt habe ich von ihnen, ich war so klein wie eine Ameise und bin durch die Augenhöhlen in die Schädel spaziert, die wie Kirchenschiffe waren. Oder vielleicht, als wir über die Felder wanderten, in unseren Rucksäcken Wurst und Brot, die meine Tanten spendiert hatten, weil diese Sachen inzwischen schon das Dreifache kosteten. Als Fräulein Stein und ich uns an der Hand hielten und Im Frühtau zu Berge sangen, als wären wir Hänsel und Gretel, voll dem Wohlgefallen, das wir aneinander hatten. Ungefähr zu dieser Zeit, ja, tatsächlich zu dieser Zeit hat meinen Vater die Kugel getroffen oder ein Granatsplitter, wer soll das wissen, wer will das wissen. Meine Mutter hat der zweite Krieg umgebracht, meinen Vater der erste. Und beide auf ähnliche Weise. Meine liebe Margarida meinte, das habe etwas zu bedeuten, sie verehrte Bedeutungen, und Bedeutung hieß bei ihr immer etwas Gutes. Der — wenn man es recht bedenkt — brutale Wunsch, daß es in der Welt und im Leben stets eine Ausnahme zu unseren Gunsten geben müsse. Und falls Leben und Welt für diese Ausnahme zu kurz geraten sollten, werden Leben und Welt eben ins Jenseits hinein verlängert. Margarida sagte: ›Du hast eben doch nicht recht. Sie haben sich geliebt, deine Eltern.‹ Und ich sagte: ›Schön. Und um das zu beweisen, mußten zwei Kriege her?‹ Ich habe nicht an meinen Vater gedacht, den ganzen Sommer über nicht ein Mal. An meine Mutter habe ich gedacht, an meine Großmutter, an meinen Großvater, an meinen Vater nicht. Wenn wir uns drüben begegnen, was mir in letzter Zeit beunruhigenderweise immer plausibler erscheint, wird mir ein junger Mann gegenüberstehen, der vielleicht Geheimnisse hinter seiner Stirn trägt — vielleicht hat er ja tatsächlich das Briefpapier des XX. Korpskommandos Brixen gefälscht! — , er wird die Hacken zusammenschlagen und mir die Hand schütteln, und mehr wird wahrscheinlich und leider nicht sein. Sollte allerdings meine Mutter bei ihm stehen, im zweiteiligen Wollkostüm in Altrosa, die Ärmel besetzt mit je zwei Fuchspelzstreifchen, und sollten sich die beiden womöglich sogar bei der Hand halten — nun, ich nehme an, in diesem Fall wird Margarida nicht weit sein, und sie wird sagen: ›Siehst du, du verkalkter, blöder Agnostiker, du hast eben doch nicht recht gehabt.‹ — Wenn zwei so einen wie mich in die Welt befördern, hat das eine Bedeutung. Falou e disse!«

4

Die Erinnerung formt sich nach den Folgen des Erinnerten; der Phantasie liegt ein stabiles gegenwärtiges Verlangen zugrunde, nämlich: sich einzubilden, wer man in der Vergangenheit hätte gewesen sein können; und trotz aller Vorsicht, nur ja nicht Wirklichkeit und Wunsch zu verwechseln, streckt sich das Fragezeichen des Konjunktivs allmählich zum Rufzeichen des Indikativs, so daß das Erinnerte bald alles andere als ein Bild aus der Vergangenheit darstellt, sondern nur noch die Nöte der Gegenwart spiegelt. Die Vergangenheit ist der Laden des Teufels, sagt Ralph Waldo Emerson, wenn ich mich recht erinnere, und der Teufel liefert jede Ware, die gewünscht wird; was ja wohl heißen soll, daß Erinnerungen immer lügen, weil sie aus dem Fundus des Lügenkönigs stammen … — Ich spreche nun von mir, Sebastian Lukasser, Vorwort und Vorsicht gelten meinen Erinnerungen. Daß ich so ausführlich über die Begegnung zwischen Carl und Edith Stein im Sommer 1914 berichte, hat auch — vor allem, möchte ich sagen — seinen Grund in meiner eigenen Biographie — und in der Biographie meiner Mutter.

Über meine Mutter habe ich bisher wenig erzählt. Das bedrückt mich, weil es ungerecht ist; was es zu erzählen gibt, bedrückt mich allerdings noch mehr. Bei unserem Gespräch nach Carls Beerdigung — bei welcher Gelegenheit sie übrigens zum erstenmal ihren Enkel David sah —, fragte sie mich, wie meine Gedanken an sie aussähen, und weil sie mich ausdrücklich bat, ehrlich zu sein, antwortete ich ihr, ich könne nicht anders an sie denken als entweder mit einem schlechten Gewissen oder mit Wut und Fassungslosigkeit, meistens mit einem Gemisch aus allem, wobei eins dem anderen Munition liefere. Sie blickte an mir vorbei auf den Zierlorbeer, der innen an der Friedhofsmauer wuchs, und sagte:»Dafür bitte ich dich um Verzeihung. «Etwas Ähnliches hätte ich mir denken können. Ich war trotzdem nicht darauf gefaßt gewesen. Es zog mir den Boden unter den Füßen weg und die Tränen aus den Augen. David hat mich umarmt. Ich sagte zu ihr:»Ich danke dir, Mama. Mein Sohn hat mich umarmt. Das hast du bewirkt. «Was ein unsäglich querulantisches Zeug war und wofür ich mich auf der Stelle auch unsäglich schämte. Sie stand vor uns, barfuß in Sandalen, in ihrem braunen Ordenskleid, das mir wie ein Manifest gegen mich vorkam, das schwarze Skapulier über Kopf und Schultern, die Haut unter den Augen in einem unglücklichen körnigen Rosa, und sagte ohne Regung in der Stimme:»Du bist ein Zyniker geworden, Sebastian. Warum?«Was ich gesagt hatte, war vielleicht blöde, es war hilflos bockig, aber zynisch war es nicht gemeint gewesen. David hatte es bestimmt nicht so verstanden; nun blickte er mich an, und in seinen Augen war Abscheu. Und ich war wieder einmal von meiner Mutter vor drei Möglichkeiten gestellt worden: Entgegnung, Bestätigung oder Schweigen. Egal, wofür ich mich entschied, ich würde als ein Schuldiger zurückbleiben …

Es gibt nichts Richtiges im Falschen, deshalb war immer alles falsch, was sich zwischen meiner Mutter und mir abgespielt hatte; wobei ich mir die Schuld daran anrechne — was kein großsprecherisches An-die-Brust-Schlagen ist, sondern traurige Konsequenz aus der Tatsache, daß ich mir unserer neurotischen Beziehung stets bewußt war, sie sich aber nicht; daß es also immer bei mir gelegen hätte, steuernd einzugreifen. Wenn sie mich dennoch um Verzeihung bat, dann, weil sie lediglich vermutete, irgendwann einmal in unserer Vergangenheit einen Fehler begangen zu haben, eine Art Grundfehler vielleicht; sie erinnerte sich zwar nicht daran, wollte sich aber vor dem Privileg des Verletzten, auf alle Fälle recht zu haben, beugen, und zwar in Demut. Unsere Beziehung war nicht so geworden, weil einer von uns irgendwelche Fehler begangen hatte. Versäumnisse waren es. Es hat etwas Indirektes, Gespreiztes, Geheucheltes an sich, zu bereuen, daß man etwas nicht getan hat.