Meine Mutter gehört dem gleichen Orden an, in den Edith Stein nach ihrer Konvertierung zum Katholizismus eingetreten war — dem teresianischen Karmel —, und es war Edith Steins Autobiographie gewesen, die zehn Jahre nach dem Tod meines Vaters den letzten Ausschlag dafür gab, daß sie allem gesellschaftlichen Leben den Rücken kehrte — und als wäre das nicht schon genug, ihre Oberen außerdem bat, sie in ein Land zu versetzen, dessen Sprache sie nicht verstand, so daß die gewährten Ausnahmen des Schweigegelübdes ihr nur ja keine Erleichterung brächten. Sie lebt heute im Monastère du Carmel in Fouquières les Béthune nahe der belgischen Grenze, bewohnt dort eine Zelle von drei Metern Länge und zwei Metern Breite, in dem es nur wenige Gegenstände gibt, die sie an ihr Leben davor erinnern, und außer der Regula Montis Carmeli und des Neuen Testaments nichts zu lesen. Sie nennt sich Benedicta Teresa, das sind Edith Steins Ordensnamen in umgekehrter Reihenfolge. Robert Lenobel hat mich einmal nach meiner Mutter gefragt; ich antwortete, sie lebe in Frankreich. Der Fuchs hat ein Instrument zum Aufspüren neurotischer Schwingungen in seinem Hirn eingebaut, er bohrte weiter, und ich erfand drauflos. Ob sie wieder verheiratet sei, fragte er; ich sagte, nein; ob sie mit jemandem zusammenlebe, fragte er; und weil ich fürchtete, wir nähern uns wie beim heiteren Beruferaten mit Robert Lembke allmählich der Wahrheit, sagte ich, ja, sie lebe in einer Gemeinschaft. Das rechtfertigte ich vor mir damit, daß sie ja tatsächlich in einer Gemeinschaft lebte; ich also genaugenommen nicht gelogen und somit auch keinen Verrat an meiner Mutter begangen hatte. Zu Evelyn sagte ich einmal, meine Mutter sei tot. So etwas kann man nicht zurücknehmen. Man müßte es aber zurücknehmen. Ich konnte es nicht …
Sie war nie fromm gewesen. Jedenfalls hatte ich als Kind nie den Eindruck gehabt, sie sei es. Später hätte ich es wohl gar nicht gemerkt. Manchmal sind wir in die Kirche gegangen, allerdings nur, weil mein Vater es wollte. Der Herrgott fiel ihm ein, am hellichten Nachmittag, und er meinte, es könne schaden, wenn man sich nicht ab und zu bei ihm zurückmeldete. Er schleppte meine Mutter und mich in die Kirche am Gürtel in der Nähe vom Westbahnhof (ich weiß ihren Namen nicht, die geziegelte mit dem Kuppelschiff, an der schon seit vielen Jahren ein abwaschbares Transparent mit der Aufschrift» Es gibt einen, der dich liebt … Jesus Christus «hängt). Mein Vater wollte, daß außer uns niemand in den Bänken sei, und das war in dieser Kirche an den Nachmittagen der Fall. Er fürchtete nämlich — und hoffte zugleich —, jemand würde ihn erkennen, er hielt es für kein günstiges Image für einen Jazzmusiker, in Kirchen herumzuhängen. Wir knieten in der vordersten Reihe, ich zwischen meinen Eltern, und mein Vater trug laut ein Phantasiegebet vor — wunderbar rhythmisiert übrigens —, in dem wir, seine Frau, sein Sohn, vorkamen, manchmal auch Carl; in dem er seiner Sorge, womöglich doch kein großer Künstler zu sein, Ausdruck gab und in dem er seine Vorsätze aufzählte — mehr üben, mehr üben, mehr üben, nicht so lange schlafen, nicht immer gleich explodieren, die Mama und den Sohn öfter küssen, mehr verdienen, um die Schulden bezahlen zu können. Er preßte die Hände vor die Augen, und ich dachte, jetzt denkt er sich seinen größten Vorsatz, nämlich: nicht mehr zu trinken. Meine Mutter hatte wie ich die Hände gefaltet, sagte wie ich am Ende des Gebets Amen — weil das Gebet erfunden war, wußten wir nicht, wann das Amen kam, weil mein Vater aber wollte, daß wir alle drei im Chor das Amen sagten, kündete er es jedesmal an:»Und jetzt gemeinsam: Amen!«—; ansonsten wirkte sie unbeteiligt — als gehöre sie einer anderen Religion an und verstehe diese hier nicht oder gehöre überhaupt keiner Religion an. Sie wartete, bis mein Vater fertig war. Und entsprach damit dem Bild, das ich von ihr hatte: eine Frau, die wartet. Ohne Ungeduld. Die auf nichts Bestimmtes wartete. Ihr Warten war pure Negation. Daß die Zeit vergehe. Daß keine Zeit mehr sei.
Sie war keine ambitionierte Hausfrau, war sie nie gewesen. In diesem Punkt herrschte bei uns zu Hause Gleichberechtigung. Wir waren alle gleich nachlässig, und keinen von uns störte das. Manchmal aßen wir Tage hintereinander nur Brot mit Butter und Honig und tranken Kakao dazu (sie streute übrigens Pfeffer über den Honig). Nicht weil wir kein Geld hatten, sondern weil es keiner von uns über sich brachte, hinüber zum Johann Lammel zu gehen, um etwas Gescheites zum Essen einzukaufen. Der Haushalt war nie ein Thema gewesen. Geld übrigens auch nicht. Jedenfalls nicht in meiner Gegenwart. Wir waren eine Familie, in der zwar jeder Groschen umgedreht werden mußte — was ausschließlich meine Mutter übernahm —, in der Geldmangel jedoch niemals zu Streit führte. Darüber kann ich mich heute noch wundern. Mein Vater nahm gelegentlich Jobs an, kleine, leichte Arbeiten; bei der Post einmal, daran erinnere ich mich, er mußte beim Westbahnhof Pakete werfen und hat uns am Abend seine Muskeln gezeigt, hat aber bald damit aufgehört, weil er fürchtete, er könnte sich einen Finger brechen und nicht mehr Gitarre spielen. Immer wieder gab er Gitarrestunden, fuhr mit dem Fahrrad durch die Stadt zu seinen Schülern, die Gibson in der gepolsterten Tasche auf dem Rücken. An den Abenden spielte er in verschiedenen Formationen in verschiedenen Lokalen, im Sommer vor Touristen in Grinzing in einem Schrammelquartett (auf der Gibson!). Carl redete ihm ins Gewissen, er solle sein Talent nicht vergeuden; wenn er Geld brauche, werde er es ihm geben; das sei kein Almosen, sondern der Tribut des Untalentierten an den Talentierten — und so weiter. Ich glaube, meine Mutter hätte nichts dagegen gehabt; aber mein Vater wollte es nicht; besser: meistens wollte er es nicht; besser: immer wieder fiel ihm ein, daß er es eigentlich nicht wollte.
Wie Carl sie mir als junge Frau beschrieb, erkenne ich sie nicht wieder: nervös, getrieben, monoman. In dem zarten, struppigen Mann, der mehrere Male in der Woche mit Carl im Imperial frühstückte, hatte sie geglaubt, den für sie Bestimmten zu erkennen. Erst wohnten sie bei Georgs Mutter in dem Gemeindebau im 17. Bezirk in der Zeilergasse (vis-à-vis hauste übrigens der wallbärtige König der Contragitarre, Anton Strohmayer; wenn er sich in seiner Küche den Kaffee aufbrühte, konnte ihn Georg sehen; manchmal winkten sie einander zu). Agnes’ Vater galt als vermißt, ihre Mutter zögerte jedoch, ihn für tot erklären zu lassen. Einmal nur, bei der Hochzeit und dem anschließenden Essen in der Goldenen Glocke in der Kettenbrückengasse, hatte Georg seine Schwiegermutter gesehen — eine Frau mit aufgequollenen Augen und einem lippenlosen Strich als Mund, aber den grell geschminkt. Georg fand schließlich eine eigene Wohnung, draußen in der Penzingerstraße, nicht weit vom Technischen Museum. Die Wohnung war billig. Aber, wie Carl meinte, unmöglich geschnitten. Die Zimmer reihten sich wie auf der Wäscheleine hintereinander, und zwar in einer merkwürdigen Abfolge — wenn man eintrat, befand man sich in der Waschküche, es folgten die Küche, das Wohnzimmer, das Schlafzimmer, das Bad und zuletzt ein eventuelles Kinderzimmer, das blickte in einen Garten mit Kirschbäumen hinaus. Carl schlug vor, in seinem Haus am Rudolfsplatz eine Wohnung für sie einzurichten. Das wollte Georg nicht, und Agnes wollte es auch nicht.
Als Agnes schwanger war, wurde ihr im Imperial gekündigt. Kellnerinnen mit einem dicken Bauch paßten nicht in das Café eines Nobelhotels. Carl riet ihr, sich an die Arbeiterkammer zu wenden oder an die Gewerkschaft. Statt für sie zu kämpfen, bot ihr die Gewerkschaft einen Posten als Sekretärin an. Erst aber blieb sie zu Hause und kümmerte sich um das Kind. In dieser Zeit lebten sie von Carls Geld. Er richtete bei der Postsparkasse ein Konto für sie ein, lautend auf Agnes und Georg Lukasser, und überwies monatlich einen Betrag. Dafür besuchte er sie öfter und ließ sich von Georg auf der Gitarre vorspielen. Er besorgte auch einen Plattenspieler und Schallplatten — Louis Armstrong, Charlie Parker, Billie Holiday, Enrico Caruso, Dizzie Gillespie, Coleman Hawkins —, das seien nicht Geschenke, sagte er, sondern Investitionen. Er stieß auf kein großes Interesse. Georg und Agnes taten den lieben Tag lang nichts anderes, als sich um das Kind zu kümmern. Georg vernachlässigte die Musik, die Gibson lag eingepackt in ihrem Koffer im letzten Zimmer, das noch leer war. Das Kind schlief bei Georg und Agnes im Bett. Agnes ging an den Nachmittagen zusammen mit Carls Schwester Valerie und dem Kinderwagen spazieren. Georg verließ nur sehr selten die Wohnung. Und er zog sich selten etwas anderes an als den Schlafanzug. Er trank nicht viel, aber ständig. Er verlor den Überblick, dachte, es seien nicht mehr als zwei Achtel oder drei oder höchstens vier am Tag, während Agnes wußte, es war nie weniger als eine Flasche. Carl ermahnte Georg, nicht auf das Üben zu vergessen, ein Talent könne verkümmern, und es könne sogar absterben. Georg reagierte unverhältnismäßig zornig. Musik entstehe nicht in den Fingern, sondern im Kopf, sagte er, und die Liebe zu seinem Kind sei die beste Musik, also übe er. Carl zog sich zurück, der Kontakt brach ab. Die monatliche Überweisung blieb aufrecht. Nach einem Jahr stand Georg vor Carls Tür, erklärte, das Geld sei nun nicht mehr nötig, weil Agnes mit ihrer Arbeit beim Gewerkschaftsbund begonnen habe, und fragte, ob Carl der Pate seines Sohnes werden wolle, man habe nämlich beschlossen, ihn taufen zu lassen, man könne ja nicht ausschließen, daß etwas dran sei, im übrigen übe er jeden Tag mindestens drei Stunden. Es sei ihm eine Ehre, sagte Carl. Der Streit war vergessen. Agnes fuhr nun jeden Morgen mit der Straßenbahn von Penzing zum Karlsplatz und ging weiter zu Fuß die Prinz-Eugen-Straße hinauf zur Bezirkszentrale des ÖGB. Am späten Nachmittag kehrte sie zurück, bügelte die Hemden, räumte die Wohnung auf, kochte. Georg trug das Kind auf dem Arm, fütterte es feist, rollte mit ihm auf dem Boden durch die Zimmer, schlief, wenn es schlief, spielte ihm vor und ließ es mit den Patschfingern in die Saiten greifen, bis es sich an der hohen E verletzte. Freitags, samstags und sonntags trat er in den Clubs auf. In den ersten Morgenstunden kam er nach Hause und war betrunken. Bis in den Nachmittag hinein schlief er. Als der Sohn fünf Jahre alt war, brachte er seinem Vater das Frühstück ans Bett. Agnes bereitete es vor, bevor sie zur Arbeit fuhr, Kaffee in der Thermoskanne, Käsebrot zwischen zwei Tellern, damit es nicht austrocknete. Georg versprach seinem Sohn, daß bald alles anders würde, es sei im Augenblick eine schwierige Zeit. Den Kaffee ließ er, statt dessen trank er Weißwein. Bevor Agnes von der Arbeit nach Hause kam, putzte er sich die Zähne und gurgelte mit Kaffee, den Rest schüttete er ins Waschbecken. Er haßte Kaffee. Als der Sohn sechs Jahre alt war, zog er die Mutter am Ärmel in sein Zimmer und sagte:»Er schläft bis um drei, und bevor du kommst, putzt er sich die Zähne und gurgelt mit Kaffee. «Sie nickte und versprach, mit dem Vater zu reden. Der Sohn beobachtete seine Eltern, spionierte ihnen nach, sah sie aber nicht miteinander sprechen. Vielleicht redete die Mutter ja in der Nacht mit dem Vater, das konnte er nicht hören, weil zwischen seinem Zimmer und dem Schlafzimmer das Bad lag, und dort rauschte die Klospülung, der Ablauf vom Reservoir war nämlich nicht dicht. Er glaubte, es würde nützen, wenn sie mit ihm redete, und warf ihr vor, daß sie es nicht tat. Als er sieben Jahre alt war und in die Schule kam, war Georg an den Tagen allein in der Wohnung. Er spielte auf der Gibson und trank. Er bevorzugte nun Whisky, Vat 69, Jim Beam und den roten Johnnie Walker. Wenn der Sohn wieder damit anfing, schüttelte Agnes nur den Kopf, und ihre Augen wurden wie Zement. Der Sohn nahm eines Tages seinen Mut zusammen und bat den Vater, nicht soviel zu trinken. Georg bekam einen hysterischen Anfall, schrie, ob es denn schon wieder soweit sei, daß ein Kind seinen Vater bespitzle und verleumde. Durch all diese Jahre hatte der Sohn ein schweres Herz, weil sein Vater ein Trinker war, er aber nicht wußte, ob es wirklich so schlimm war, wie er dachte, oder nur eine vorübergehende Schwäche, und er dem Vater vielleicht unrecht tat, was ihn nur noch weiter schwächen würde. Als er zehn war und in der ersten Klasse des Gymnasiums, brach Georg zusammen. Agnes wollte sich scheiden lassen. Sie schimpfte, und das hörte sich für den Sohn an wie eine Reklamation. Sie hat sich von uns abgekoppelt, dachte der Sohn. Sie fühlt sich nicht mehr zu unserem Gespann gehörig. Sie war auf einmal anders. Ihre Stimme war anders — vorne im Mund gebildet, scharf und überartikuliert —, ihr Schritt war anders, die Bewegungen ihrer Hände waren anders, zuckend, provokant, unkontrolliert, spastisch. Der Sohn dachte sich: Die Mutter ist ohne Gefühl; ohne Gefühl für ihren Mann, ohne Gefühl für ihren Sohn, ohne Gefühl für jeden Menschen auf der Welt.