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Bald nach mir kam meine Mutter nach Hause.»Es hat sich erledigt«, sagte sie.

«Bist du mir böse?«fragte ich.

«Ein paar Tage lang, ja«, sagte sie.

«Und nach den paar Tagen?«

«Nicht mehr.«

«Hast du mich lieb?«fragte ich.

«Natürlich habe ich dich lieb.«

Aber sie fragte mich nicht zurück, ob ich sie auch lieb habe. So weit ging es doch wieder nicht.

Im Herbst 1985 — ich lebte in Amerika, in North Dakota, in der Nähe der Stadt Dickinson — erhielt ich einen Brief von Carl, in dem er mich dringend bat, nach Österreich zu kommen —»Unter allen Umständen!«—, es gehe um das Leben meiner Mutter. Ich rief ihn sofort an. Es war unser erstes Telefonat nach langer Zeit.

Er freute sich überschwenglich, soweit man das bei seiner Art sagen kann; kein Vorwurf klang in seiner Stimme nach, keine Spur von Distanziertheit bemerkte ich; womit ich nämlich gerechnet hatte, ich hatte den Kontakt ja ziemlich brüsk abgebrochen nach dem Gespräch aus der Telefonzelle in Brooklyn. Nein, sagte er, ich brauche mir keine Sorgen zu machen, meiner Mutter gehe es gut, vielleicht sogar besser als je zuvor, sie sei gesund, wie ein Mensch nur gesund sein könne, und sie sei glücklich. Sie habe einen Lebensentschluß gefaßt, und sie brauche mich, damit sie ihn ausführen könne. Näheres wolle er aus Respekt vor ihr am Telefon nicht sagen. Er ließ mir keine Gelegenheit für Wenn und Aber, redete über die paar Worte, die ich einwarf, hinweg: er habe beim Reisebüro einen Flug reservieren lassen und gehe davon aus, daß ich einverstanden sei, er werde noch heute buchen.

Was dachte ich? Daß meine Mutter wieder heiraten will, dachte ich. Seit ich in Amerika war, hatte ich ihr fünf Ansichtskarten geschrieben, zwei aus New York, eine aus Washington, D.C., eine aus Oxford, Ohio (wo ich an der Miami University einige Vorträge über deutsche Literatur, speziell über Brecht, Brentano, Heine und Wedekind, also Lyrik, die sich singen läßt, gehalten hatte), und ein Ansichtskartenleporello mit Bildern vom Theodore Roosevelt Nationalpark, der, wie ich schrieb,»meine neue Heimat «geworden sei. Sie hatte mir mit ebenso vielen Briefen geantwortet, keiner länger als zehn Zeilen. Ich dachte, das ist eine wirklich gute Idee, daß sie heiraten will. Ich stellte mir vor, was für ein Mann es sei, und er war mir in meiner Phantasie sympathisch. Weiter dachte ich, es muß einen Grund geben, warum meine Mutter Carl vorschickt und mir nicht selbst geschrieben hat; und ich dachte, sie schämt sich vor mir und fürchtet, ich könnte ihr ihre neue Liebe übelnehmen; und ich dachte, ja, nun kann wirklich alles gut werden zwischen uns, und ich wollte auch alles dafür tun und gleich damit anfangen, indem ich akzeptierte, daß sie mir ihren Entschluß indirekt über Carl mitteilte. Ich sagte zu. Rief nicht bei ihr an. Stieg in meinen Jeep, ratterte durch die Prärie nach Bismarck, hüpfte über Minneapolis und Amsterdam nach Zürich, fuhr mit dem Zug nach Feldkirch in Vorarlberg und von dort mit dem Bus in das kleine Dorf Nofels und ging zu Fuß die zwei Kilometer von der Haltestelle zu dem wettergrau geschindelten Bauernhaus, in dem meine Mutter nun allein wohnte. Sie empfing mich mit einem kräftigen Händedruck. Sie hatte die Haare zu einer kurzen Männerfrisur geschnitten, trug selbst im Haus einen dünnen Staubmantel und war geistesabwesend wie immer. Ich konnte an ihr nicht feststellen, daß sie sich über mein Kommen freute. Sie eröffnete mir, worum es ging: nämlich, daß sie in einen Orden eintreten wolle und daß sie dafür meine Zustimmung brauche, und zwar schriftlich.

Damit ich hätte glauben können, dies sei ein Witz, hätte meine Mutter wenigstens einmal in ihrem Leben einen Witz machen müssen. Ich fühlte mich von Carl hereingelegt — daß er mich nicht vorgewarnt hatte, daß er nicht nach Nofels gekommen war, um mich gegen diese Verrücktheit zu unterstützen. Aber er hätte mich ja gar nicht unterstützt! Er unterstützte nämlich meine Mutter in ihrem Entschluß! Noch am selben Abend rief er an. Und zwar so vehement unterstützte er sie, als ginge es dabei um die Substanz seines eigenen Lebens. Meine Mutter befand sich bereits in jenem Land, in dem es keine Aufschreie, kein Entsetzen, keine herzzerreißende Trauer, kein Weinen und kein Fluchen gibt, nur Hingabe an das, was ist, weil man weiß, woher es kommt.

7

«Im November 1917 bekam ich einen Brief von Edith Stein nach Wien«, fuhr Carl in seiner Erzählung fort.

Das Kaminfeuer hatten wir ausgehen lassen, ich hatte ohnehin nur zwei Handvoll Spreißel angefacht, der Föhn drückte den Rauch in den Abzug. Als ich auf die Terrasse getreten war, um einen Armvoll Birkenscheite zu holen, war es draußen bereits so warm wie im Haus, das Feuer hätte nur der Gemütlichkeit gedient, nicht, um uns zu wärmen. Ich ließ die Tür offen, und wir genossen den falschen Frühling, bis es doch etwas kühl wurde — da war es bald Mitternacht. Die kleine Stunde Schlaf am Nachmittag nach unserem Ausflug zu Margaridas Grab hatte mich erfrischt und gekräftigt wie eine komprimierte Kur; außerdem wirkte Carls Vitalität ansteckend auf mich. Ob diese jugendliche Energie pharmazeutischen Quellen entsprang oder allein seinem lebensgierigen Geist oder ob sie das merkwürdige Phänomen bestätigte, daß die Erinnerung nicht nur Bilder und Geschichten aus der Vergangenheit transportiere wie der Postbote Päckchen und Briefe, sondern den sich Erinnernden immer auch zurückverwandle, das ließ sich nicht entscheiden — wenn ich Carl reden hörte und dabei die Augen schloß, war er der ewig altersgleiche Freund, als der er mich durch mein Leben begleitet hatte.

Er bat mich, ihm die Zigarette anzuzünden, und schlug vor, daß wir sie gemeinsam rauchen. Das wollte ich nicht.

«Ich habe es mir so mühsam abgewöhnt«, sagte ich.

Ich solle mich nicht so sehr vor den Dingen fürchten, antwortete er, die Dinge seien wie Hunde, sie würden frech, wenn sie einen vor sich haben, der vor ihnen Angst hat.

Der Duft der Zigarette verband sich mit der Föhnluft von draußen zu einem Gemisch, das mich nur noch euphorischer werden ließ. Solche Hochstimmungen seien immer egozentrisch, sagt Robert Lenobel, und während Carl von seinen Erlebnissen als Achtjähriger in Göttingen erzählte, war mir, als erzählte er auch von mir, als borge er sich die Aura und die Atmosphäre meiner Erinnerungen, um sie seinem kleinen Vorläufer umzulegen. Der Geruch der Bratäpfel, der seine Erinnerungen hätte unterstützen sollen, war realiter in aufdringlicher Weise störend gewesen; als wir gegessen hatten, räumte ich das Geschirr in die Küche und schob die Reste in die Toilette und wusch die Teller ab, um jede Spur von dem Zimtgeruch zu tilgen, und ich dachte, Carl empfand einen ähnlichen Widerwillen gegen diese Vorweihnachtlichkeit, und die Zigarette hatte in erster Linie den Zweck, neue olfaktorische Voraussetzungen zu schaffen. Er wünschte sich, daß ich ihn für eine Minute hinaus auf die Terrasse schiebe. Dort legte er den Kopf in den Nacken und schloß die Augen, und sein Gesicht entspannte sich, und er sah glücklich aus. Er liebte die warmen Jahreszeiten. Ein frommer Gedanke kam in mir hoch, nämlich daß ihm im Februar ein kleiner Frühling geschickt worden war, weil er den großen nicht mehr erleben würde.