«Mir«, fuhr er fort,»einem Elfjährigen, schrieb sie: ›Ich kenne sonst niemanden, an den ich mich wenden könnte.‹ Adolf Reinach war tot. Er war einer der achtzigtausend Männer, die in der Panzerschlacht bei Cambrai in Flandern gefallen waren. Reinach war ihr Mentor gewesen, ihr Führer durch die Welt der Phänomenologie, ihr Vertrauter, ihr Freund — ihr Führer durch die Welt. Der, der mit Tante Kuni um seine Erstausgabe von Hegels Logik gewettet hatte, daß sie im ganzen Reich keine bessere Tutorin als das Fräulein Stein finde. Der, der gesagt hatte, er müsse nicht in den Krieg, er dürfe. Merkwürdigerweise war die Kriegsbegeisterung unter den Philosophen besonders groß gewesen. Und die Göttinger Phänomenologen übertrafen darin noch ihre Kollegen. Ich weiß nicht, woran das lag. Der Brief war an mich adressiert, aber sie sprach nicht mit mir, natürlich nicht, ich nehme an, sie hat mit ihrem Herrgott gesprochen oder mit ihrer Philosophie. Welche Ehre für mich! Natürlich war ich völlig überfordert. Der größte Teil des Briefes bestand aus Fragen. Der Tod als Kulturprodukt? Im Gegensatz zum Tod als einem natürlichen Ereignis? Der Tod, von der Natur vertrauensvoll in unsere Hände gelegt? Damit wir ihn von nun an verwalten? Für ihn Sorge tragen? Interessant für einen Phänomenologen! Dem Tod wäre das Rätselhafte, das Unheimliche, das Mysteriöse, das Religion- und Philosophiestiftende genommen. Allerdings auch jeder metaphysische Sinn. Aber wenn wir einfach auf die Metaphysik pfeifen? Und uns den Sinn nach Plan selber zusammenbasteln? Die Philosophie als Produktionsstätte von Sinn mit dem Hauptwerk in Göttingen. Sinn, den jeweiligen Lebensumständen angepaßt. Maßgeschneiderter Sinn sozusagen. In gereimter Form womöglich. Gemalt und massenhaft gedruckt. Zum Beispiel in der Illustrirten Geschichte des Weltkrieges. In der Septemberausgabe 1914 konnte man sich in der Mitte dieses Blattes eine prächtige Doppelseite ansehen: im Hintergrund ein brennendes französisches Dorf, ein wabernder, orange-roter Himmel, in der Mitte Kaiser Wilhelm II., in einem Auto stehend, ihm gegenüber sein Sohn, der Kronprinz gleichen Namens, hoch zu Roß, ein Schimmel muß es sein, Berichterstattung und Siegmeldung vor dem Oberkommandierenden der deutschen Truppen, rechts und links ein paar Feldgraue, die uns ihre grauen Hosenböden zeigen, und vorne drei französische Gefangene, einer ein Afrikaner, staunend über so viel deutsche Überlegenheit. Ich habe mir bei meiner Abfahrt aus Göttingen von meiner Großtante die Zeitschrift kaufen lassen, und während der Fahrt nach München und am nächsten Tag von München nach Wien habe ich über diesem Gemälde gehockt und geträumt, bis es mir meine Großmutter verboten hat. Im Vordergrund lag ein Tornister auf dem Weg. Wem gehörte der? Das hat mich beschäftigt. Und der orangerote Himmel hat mich beschäftigt. Was brennt denn hier so gut? Und auf jeder Seite: ›Deutschland, Deutschland über alles …‹ Und noch eines habe ich mir gemerkt: ›Nun kommen wir Jungen! / Mit ehernen Zungen / verkünden wir Krieg. / Wir kennen das Hassen! / Aus unseren Massen / Wachse der Sieg.‹ In Wahrheit war es bereits vorbei mit der Begeisterung. Die oberste Kriegsführung brauchte dringend Helden. Der Held erhebt das Herz des Volkes. Viele Helden erheben viele Herzen. Das ist eine einfache Rechnung. Und wenn die Helden jung sind, um so besser. Und als hätte man das Gedicht in der Wirklichkeit nachstellen wollen, wurde in Langemarck einem Reservekorps, bestehend zum größten Teil aus unerfahrenen Gymnasiasten und Studenten — auch ein Haufen Göttinger dabei —, der Befehl erteilt, eine Hügelkette zu erstürmen, wo britische Söldner in Gräben lagen und mit ihren Maschinengewehren alles niedermähten, was sich vor ihnen bewegte. Allein am ersten Tag fielen zweitausend von diesen jungen Männern. Das halbe philosophische Institut war weg. Nun wurde die Operation abgebrochen. Sie hatte weder strategisch noch taktisch Sinn gehabt. Ihr Zweck war es einzig und allein gewesen, Helden zu produzieren. Das war gelungen. Drei Jahre später, als Adolf Reinach fiel, hat keiner mehr gejubelt. Und von Helden hat keiner mehr gesprochen. Nur darauf gewartet hat man, daß die Erde endlich ihr Maul schließen möge. Vierzigtausend auf jeder Seite in dieser einen Panzerschlacht! Es gibt Menschen, die setzen alles in den Sand, die sind böse, und sie machen sogar im Sinne des Bösen alles falsch, aber sie gelten als zuverlässig, selbst ihre Gegner sind beruhigt, wenn sie die Dinge in die Hand nehmen, denn man traut ihnen zu, im Falschen das Richtige zu tun. Sie gelten als tapfer und sind feige, als uneigennützig und bestehen doch von außen bis innen aus Egoismus. Sie gelten als hervorragende Strategen und gewiefte Taktiker und sind doch nichts anderes als Dummköpfe, Parvenus ohne den geringsten geistigen Zuschliff. Das ist der Ludendorff-Typus. Dieser Typus war nun an der Macht. Man hat den Nihilisten zum Heroen erhoben. Das ist wohl einmalig in der Weltgeschichte! Aber durchaus logisch! Wenn ausschließlich der Krieg dem Tod einen Sinn zu geben vermag, so ist der Gipfelpunkt des Nihilismus erreicht. Nur: Nach drei Jahren hingebungsvollem Schlachten hat sich herausgestellt, daß dem Tod im Krieg kein Sinn gegeben werden kann, weil sich nämlich der Sinn auf alle gleich verteilt und sich der großen Masse wegen gegen null verdünnt. Und wenn alles vorbei ist, nach dem Ende, sollen wir einsehen, daß wir glücklich nur sein können, wenn wir mit der Welt nüchtern und vernünftig umgehen, und gar nicht, indem wir ihr einen Sinn geben? Kein Sinn also? In so einer Welt wolle sie nicht leben. Mir, dem Elfjährigen, vertraute Edith Stein ihren Schmerz an. Daß sie sich von dieser Welt abwenden wolle, daß sie in Kontemplation leben wolle. Wenn die Welt keinen Sinn brauche, brauche der Sinn keine Welt. — ›Ich kenne sonst niemanden, an den ich mich wenden könnte.‹ — Ich habe den Brief verloren. Was ich sehr bedaure.«
Im Schreibtisch drüben, sagte er, in der obersten Schublade rechts, verwahre Frau Mungenast die Zigaretten auf. Ob ich so gut sei, ihm noch eine zu bringen, er wolle sie nicht rauchen, nur in den Aschenbecher legen, damit sie ihren Duft verströme. Erst habe Frau Mungenast die Zigaretten im Küchenkasten deponiert, aber dort hätten sie die Frau aus dem Dorf und ihre heimtückische Tochter immer geklaut.
«Setz dich so, daß ich dich ansehen kann«, sagte er, ehe er in seiner Erzählung fortfuhr.»Hast du Schmerzen?«
«Solange ich liege, nicht«, sagte ich.
«Schieb’ den Rollstuhl etwas näher heran. «Er legte seine Hand auf meinen Fuß.»Die meisten Geschichten entpuppen sich bei näherem Hinhören als Familiengeschichten. Und meine Familie, das seid ihr gewesen. Also hör zu!
Siebenundsechzig Jahre, nachdem ich diesen Brief bekommen hatte, bald nach Margaridas Tod, klingelte es an meiner Tür, und deine Mutter stand draußen. Und sie sagte: ›Es gibt sonst niemanden, an den ich mich wenden könnte.‹ Genau so. Der Schmerz über den Tod deines Vaters war immer noch in ihr wach. Und sie glaubte, ich, der ich einen ähnlichen Schmerz in mir hatte, könne ihren Schmerz verstehen. Weil sie ihn selber nicht verstand. Aber ich verstand ja den meinen auch nicht. So haben wir uns zusammengetan. Um uns gegenseitig zu helfen. Sie wollte nicht reden. Also habe ich geredet. Ich habe ihr alles mögliche erzählt, quer durch mein Leben, und ich habe ihr auch von Edith Stein erzählt. Habe ihr ausführlich jene Nacht geschildert, in der sich meine Tanten die Pulsadern aufgeschnitten und sich ins warme Bad gesetzt hatten. Auch von dem Brief, den mir Edith Stein geschrieben hat, habe ich ihr erzählt. Und daß ich damals dachte, sie schreibt mir, weil sie nicht mehr leben will. Daß es also ein Abschiedsbrief war. Daß auch sie sich die Pulsadern aufschneiden und sich ins warme Wasser setzen wollte. Weswegen ich mich nicht getraut hatte, ihr zu antworten. Ich erzählte auch, daß ich Edith Stein Jahre später bei einem ihrer Vorträge noch einmal getroffen und daß sie damals bereits das Ordenskleid getragen habe. Deine Mutter saß, wo du jetzt sitzt, und ich habe ihr aus der Lebensgeschichte von Edith Stein vorgelesen. Und habe ihr auch von ihrem traurigen Ende erzählt. Und daß ich in Nürnberg ihrem Mörder begegnet bin. Und sie hat zugehört. Sie hat in demselben Zimmer geschlafen, in dem du schläfst. Wir sind am Morgen gemeinsam ins Dorf spaziert und haben Semmeln fürs Frühstück gekauft und Milch, weil sie so gern Kakao getrunken hat. Wir setzten uns draußen vor die Hauswand in die Sonne, auch zum See hinunter sind wir spaziert, und am Abend habe ich weitergelesen, und sie hat zugehört und hat mich gefragt, ob es mir recht sei, wenn sie einfach gar nichts sage, und das war mir recht. So haben wir uns gegenseitig getröstet. Kannst du das verstehen?»