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Wickliff Rose besuchte Carl ein zweites Mal in der Jüdenstraße. Mr. Oppenheimer sei begeistert von ihm, sagte er. Herr Candoris, so habe Oppenheimer geschwärmt, sei der einzige Mathematiker, den er bisher kennengelernt habe, dem die Mathematik für sich nicht genüge, der sie als ein reines Instrument der Physik zur Verfügung stellen wolle — das heißt: dem Leben. Carl konnte sich nicht vorstellen, welche seiner Äußerungen Oppenheimer zu diesem Urteil veranlaßt haben könnte. Aber er fühlte sich geschmeichelt, wie sollte es anders sein, und durch die Einladung in die Vereinigten Staaten von Amerika fühlte er sich natürlich auch geschmeichelt, besonders, weil sie nun bereits zum zweitenmal vorgetragen wurde.

«Ich besprach mich mit Hametner. Ich wußte, er hätte sich liebend gern von Mr. Rose anwerben lassen, er wäre sofort aufgebrochen. Nur, auf ihn hatte es der Keiler der Rockefeller Foundation nicht abgesehen. Aber Hametner war nicht neidisch. Im Gegenteil. Er drängte mich, das Angebot anzunehmen. ›In Amerika‹, rief er aus, ›in America, in Amerika wird der Schauplatz aller zukünftigen Wissenschaft sein!‹ Wobei er das zweite America amerikanisch aussprach. ›Das sagen Sie als Kommunist?‹ entgegnete ich ihm. ›Ja, das sage ich als Kommunist! Was glauben Sie denn? Daß es zwischen New York und Los Angeles keine Genossen gibt?‹ Er stampfte auf seinen Herkulesbeinen durch mein schiefes Zimmer und redete bis zum frühen Morgen auf mich ein. Eigentlich hatte ich meinen Entschluß längst gefaßt: Ja, ich wollte das Angebot von Mr. Rose annehmen. Und Eberhard ahnte es natürlich, und er war glücklich, glücklich, daß es einer von uns schaffen würde. ›Candoris, seien wir ehrlich, Sie haben gar keine andere Wahl.‹ — Dieser Satz war es. O ja, manchmal weiß man so etwas. Manchmal kann man rückblickend sehr genau einen Punkt markieren. An dieser Stelle war eine Weggabelung. Ich wußte ja, wie er es meinte. Er wollte sagen, ich sei meinem guten Schicksal erlegen, ich solle mich einlassen auf das Gute, solle nicht hadern mit dem Guten, es sei ja doch höheren Ortes beschlossen, daß ich ein Erwählter sei, ein Bevorzugter. Daß es doch etwas Wunderbares sei, die Verantwortung für sein Leben in den guten Händen des Schicksals zu wissen. Hingabe, Hingabe! Daß die Entscheidung ja gar nicht bei mir liege, daß die guten Kräfte längst für mich entschieden hätten. Ich aber vervollständigte seinen Satz in mir: Sie haben gar keine andere Wahl, Candoris, als sich in den immerwährenden Ausnahmezustand dieses irisierenden Herrn Oppenheimer und seiner Welt zu begeben. Und entgegen meiner Absicht, die noch eine halbe Minute vorher so fest gestanden hatte, und ohne jede weitere Überlegung antwortete ich: ›Nein, es ist definitiv, und ich bitte Sie, Hametner, nie wieder davon anzufangen. Ich gehe nicht nach Amerika!‹«

Für das Wintersemester 1928/ 29 und das anschließende Sommersemester wurde Emmy Noether als Gastprofessorin nach Moskau eingeladen. Auf Empfehlung von Professor Abraham Joffé. Er war in Wahrheit aus dem gleichen Grund wie Wickliff Rose nach Göttingen gekommen, und auch er hatte es in erster Linie auf die Mathematiker abgesehen. Einer spontanen Eingebung folgend, bat Carl, sie begleiten zu dürfen — als ihr Assistent, unentgeltlich selbstverständlich; den Aufenthalt und die Reise werde er aus eigener Tasche bezahlen. Emmy Noether war einverstanden, die Gastgeber waren es ebenfalls.

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Emmy Noether war gern in Moskau. Gegen Ende ihres Lebens in Princeton — so hätten ihre Kollegen berichtet — sei sie immer wieder ins Schwärmen geraten.»In Göttingen«, habe sie gesagt,»waren Mathematiker unter Mathematikern, und hier in Princeton ist es das gleiche. In Moskau aber brauchst du nur den Finger zu heben und zu rufen: Hallo, ich will etwas über Maximalbereiche aus ganzzahligen Funktionen erzählen! und schon rennen dir alle möglichen Leute das Haus ein.«

Die Sowjetunion hatte in der Mitte der zwanziger Jahre begonnen, sich von der Welt abzukapseln. Die Wissenschaftler kamen immer schwerer an ausländische Literatur heran, über die Forschungen in anderen Ländern trafen nur spärliche und schwer überprüfbare Nachrichten ein (deshalb schickten die Universitäten Leute wie Abraham Joffé aus, um Wissenschaftler ins Land zu holen, solange das noch möglich war). Zugleich aber stellten die sozialistischen Machthaber in ihren Reden und Mahnschriften außerordentliche Ansprüche — Wissenschaft und Sozialismus, hieß es, bedingten einander, der historische Materialismus sei die erste und einzige Weltanschauung auf wissenschaftlicher Basis, also objektiv; das Wort Weltanschauung sei von nun an, weil subjektiv, obsolet. Beklommenheit und Minderwertigkeitsgefühle drückten Professoren und Studenten nieder. Sie hielten sich einerseits als der hochbegabtesten Gesellschaft zugehörig, andererseits verunsicherte und verbitterte sie die offensichtliche Tatsache, daß sie am internationalen Diskurs nur marginal oder gar nicht mehr teilhatten. Wenn man in den warmen Monaten auf den Hof der Moskauer Universität herabsah, zeigte sich einem ein eigenartiges Bild: Studenten standen beieinander, nie mehr als fünf, nie weniger als drei, sie blickten aneinander vorbei, ihre Oberkörper wiegten sich in nickenden Bewegungen, was auf zufriedenste Zustimmung schließen ließ, ihre Lippen öffneten und schlossen sich, wie sich Lippen bei Gesprächen über Sterne oder Birnen oder antike Wasserleitungen öffnen und schließen mochten; aber wenn man das Ohr auf diese Menschen herabsenkte, hörte man nichts; und wenn man eine Sonde in die Herzen und Hirne dieser Menschen eingeführt hätte, hätte man erkannt, daß sich ihre Lippen auch nicht in stillen Selbstgesprächen bewegten, sondern allein, um die Person unauffällig zu halten, denn auffällig konnte schon jemand sein, der mit anderen zusammenstand und nichts sagte, weil der sich womöglich etwas dachte, was er sich laut nicht zu sagen traute. Als gegen Ende der zwanziger Jahre eine gewisse Liberalität zu keimen begann — zur Blüte brachte sie es freilich nicht —, wurde das kleinste Entgegenkommen als große Freiheit gefeiert — und ausländische Gastprofessoren, nur weil sie eben vom Ausland kamen, als Weltspitzenkapazitäten empfangen. — Haben die Gäste aus Deutschland diese Bedrücktheit nicht wahrgenommen?» Ich schon, sie nicht«, urteilte Carl.

Emmy Noether hielt ihre Vorlesungen auf deutsch, begleitet von einem Dolmetscher — der allerdings nur selten einsprang, die meisten Studenten hatten in der Schule hinreichend Deutsch gelernt. Der Hörsaal war zum Bersten voll. Auch viele Studenten aus anderen Fachbereichen waren gekommen, dazu Interessierte, die gar nicht an der Universität tätig waren — weil sie alle die Frau erleben wollten,»deren Ansehen in der Welt so einzigartig ist«(Vorlesungsverzeichnis WS 1928). Carl saß unter den Zuhörern, seine Assistententätigkeit beschränkte sich darauf, wie in Göttingen mit seiner Doktorvaterin spazierenzugehen und» Mathematik zu reden«. Emmy Noether wohnte in einem winzigen Zimmerchen im Erdgeschoß der Brodnikov-Straße, das entweder frostkalt oder überheizt war; Carl hatte Quartier in dem (relativ) vornehmen Hotel Leonjuk in der Rybnyi-Straße bezogen — was ihm peinlich war, schließlich stand er in der Rangordnung unter seiner Professorin; aber nicht peinlich genug, um auf die Annehmlichkeit beispielsweise einer Badewanne zu verzichten. Die Vorlesungen fanden am späten Nachmittag statt. Jeden Morgen holte Carl Emmy Noether ab, und sie spazierten über die Poljanka, wo sie sich süßes Brot kauften, das sie bei den buntgestrichenen Kiosken zu Limonade, die nach Rasierwasser roch, aßen. Weder der Lärm noch das Gedränge hielten sie ab, nach diesem Frühstück an der Moskwa entlangzugehen oder am Vodootvodnyi-Kanal — erst auf der einen Seite, dann über eine Brücke und weiter auf der anderen Seite und über die nächste Brücke und wieder auf der einen Seite weiter, bis sie sämtliche Brücken passiert hatten. Bald verwandelte der Winter alle Menschen in dicke und wenig schöne Geschöpfe.