Mit drei Personen unterhielten die beiden während ihrer Moskauer Monate engeren Kontakt. Der erste war der Dolmetscher Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin. Er sprach wortreich Deutsch mit Moskauer Akzent. Wo er es so gut gelernt hatte, wußte niemand. Er war ein immer angenehm riechender Mann, von kurzem, kompakt stämmigem Wuchs, dunkelhaarig, wohlgenährt, glattrasiert; er interessierte sich für Kunst, Musik, Literatur, Theater ebenso wie für Physik und die neueren Tendenzen in der Sprachwissenschaft und schien jeden zu kennen, von den akademischen Kapazitäten bis zu den Limonadenbudenbetreibern unten an der Moskwa.»Der kleine neue Mensch«, so wurde er genannt, sich selbst bezeichnete er als einen Epistemologen. Er verstand alles, lehnte nichts ab, interessierte sich für alles, fand nichts nicht der Rede wert, schien keinerlei Vorurteile zu haben, erlaubte sich allerdings auch nie ein Urteil und war der höflichste Mensch, der Carl je begegnet war. Er war Dozent am Mathematischen Institut, mehr war er nicht, verdiente sich damit gerade das Minimum für seine Existenz, wirkte dennoch immer elegant, trug Anzüge, die aussahen, als wären sie maßgeschneidert (und zwar in einem der deutschen Handwerksbetriebe, die sich seit Anfang der zwanziger Jahre in Moskau oder Leningrad niedergelassen hatten). Hatte er also noch andere Einnahmequellen? Es war nichts aus ihm herauszubekommen, und niemand schien Näheres über ihn zu wissen. Mit der Zeit kam Carl der Verdacht, daß sein größtes Geheimnis darin bestand, daß er keines hatte. Manchmal kam es vor, daß ihm jemand eine persönliche Frage stellte — wo er das Wochenende verbringe und mit wem oder ob seine Eltern auch in der Stadt lebten — dann blickte er dem Frager gerade in die Augen, als warte er auf die nächste Frage; Antwort gab er nicht.
Nach Emmy Noethers Vorlesungen traf sich regelmäßig ein Kreis von Wissenschaftlern, Studenten, Neugierigen und Interessierten in Pontrjagins Büro — das interessanterweise das größte am Institut war. Man brachte mit, was man hatte. Selten hatte jemand etwas anderes als einen Sessel aus Kirschholz — solche standen massenweise im Institut herum — und Schnaps. Also wurde auf Kirschholzsesseln gesessen und Schnaps getrunken. Und diskutiert.
Außerdem hatten sich Emmy Noether und Carl mit Ksenia Sixarulize angefreundet, die eine bekannte Volkskundlerin war. Sie stammte aus Georgien und war schon ein deutliches Stück über Fünfzig — ein körperlich aufs Wesentliche reduzierter Mensch, ausgedörrt wie eine Hungerhexe mit schwarzgefärbten offenen Haaren, überschminkten Fingern, nikotinbraunen Zähnen und einem breiigen Bronchienlachen, vor dem jeder zurückwich. Für ein paar Semester war sie aus Tiflis nach Moskau gekommen, um an der Universität über die Märchen der verschiedenen Völker der Sowjetunion zu sprechen. Sie war zu den Mathematikern geeilt, als sie erfuhr, daß eine Frau Vorlesungen halte, die aus Göttingen hierhergekommen sei. Das erste, was sie, den Zeigefinger vor Frau Professor Noethers Brust in die Luft hämmernd, rief, war:»Jacob Grimm, Wilhelm Grimm!«; und als diese erschrocken stammelte, sie wisse nicht, was sie damit sagen wolle, in akzentfreiem Hannoveraner Deutsch explizierte:»Was ihr eure Sprache nennt, das habt ihr nicht Goethe oder Lessing zu verdanken, sondern Luther und den Märchenbrüdern!«Sie beherrschte sogar umgangssprachliche Sonderheiten verschiedener deutscher Regionen, so daß sie, ohne nachfragen zu müssen, Emmy Noethers komplizierte Witze verstand. Sie selbst kannte ebenfalls unzählige Witze und konnte sie so gut erzählen, daß sie den hohen Ansprüchen des Gastes gerecht wurde — weswegen alle am Institut in den Genuß eines bis dahin nicht gehörten Lachens kamen. Die beiden konnten einander gut leiden, und mit einer kleinen Wehmut registrierte Carl, daß die Georgierin nach wenigen Tagen bereits eine Leichtigkeit im Ton anschlug, die er in den Gesprächen mit seiner Professorin wohl nie erreichen würde. Sie duzten einander. Carl hatte geglaubt, Frau Professor Noether erlaube das Duwort niemandem außerhalb ihrer Verwandtschaft. Ihn nannte Frau Sixarulize den» edlen Silbernagel«, weil er so groß und dünn war und hellblonde Haare hatte.
Der dritte im Bunde war ein junger Mann namens Jossif Aszaturow. Er studierte Ingenieurwissenschaften und hatte es als Mitglied eines studentischen Schachclubs an der Universität zu einer bescheidenen Berühmtheit gebracht — vor allem aber durch sein Aussehen. Er war von einer ins Romantische ragenden Häßlichkeit — Carls Schilderung erinnerte mich in der Tat an das Geschöpf aus Mary Shelleys Frankenstein —, ein Riese mit einem in die Länge gezogenen Gesicht, maskenhaft, blaß und wachsglatt. Seine Nase war flach und in sich verkrümmt, die Augen punktklein und rosarot gerändert. Nach jedem Wort, das er von sich gab — er habe in einer abgehackten Art gesprochen, die an einen Wahnsinnigen denken ließ —, bewegten sich die Lippen mümmelnd weiter, als formulierten sie stumm, was eigentlich gemeint, aber nicht ausgesprochen worden war. Er sprach befriedigend Deutsch, besserte manchmal mit ein paar Brocken Französisch nach. Wenn sich das Stammeln aber erst gelegt hatte, wurde einem die Freude zuteil, sich mit einem brillant denkenden Mann zu unterhalten, der die komplexesten Zusammenhänge in einer Klarheit darzustellen vermochte, als wären sie mit dem» Tau des Paradieses gewaschen«— sagte Ksenia Sixarulize.
Carl erzählte, Emmy Noether sei bestürzt gewesen über Aszaturows Häßlichkeit. Aber nicht, weil sie an seinem Schicksal besonderen Anteil nahm, sondern weil ihr drückend bewußt wurde, daß ihre eigene Häßlichkeit in Gegenwart dieser anderen nicht etwa relativiert — wie die Schönen und Normalen die Wirkung von Häßlichkeit falsch einschätzen —, sondern verstärkt wurde; daß ihr unförmiger Körper neben Aszaturows extremförmigem Körper sein Unschönes noch rücksichtsloser preisgab. Ein häßlicher Mensch neben einem schönen Menschen wird vielleicht zum Kontrast degradiert, aber weil sich durch ihn die Schönheit des anderen in gewisser Weise erst manifestiert, ja definiert, fällt ein Widerschein des Glanzes auch auf ihn. Mag sein, daß Schönheit in Schönheit untergeht, ein Häßliches jedoch macht auf ein anderes Häßliches erst aufmerksam, und am Ende erscheinen beide häßlicher als zuvor, als sie noch einzeln vor das Auge traten. — Ebendies war der Inhalt des einzigen Gesprächs zwischen Frau Professor Noether und ihrem Studenten Candoris, in dem es, über das Alltägliche hinaus, nicht um ihre geliebte Mathematik ging, sondern eben um» Persönliches«; nämlich um» die Wunden, die sie sich selbst schlage, wenn sie die Deduktionen an ihrer eigenen Person exemplifiziere«— andere Worte, um ihr Weh zu beschreiben, hatte die Doktorvaterin nicht zur Verfügung.
Dieses Gespräch hatte eine Vorgeschichte.
4
Etwa zwanzig Leute hatten sich an diesem Abend nach Emmy Noethers Vorlesung in Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagins Büro versammelt. Frau Dr. Sixarulize erzählte von ihrer Arbeit. Seit über dreißig Jahren sammelte und kommentierte sie Märchen aus ihrer Heimat Georgien, aber auch aus den angrenzenden Ländern des Kaukasus, aus Armenien, Aserbaidschan, Märchen der Mingrelier, der Lazen, der Swanen, Azeri, Tscherkessen, Tschetschenen, der kaukasischen Kurden ebenso wie der mongolischen Kalmücken, der Tadschiken, Usbeken, Turkmenen, Inguschen, Osseten, Abchasen, dazu Märchen aus der Türkei und aus Persien. In unzähligen Artikeln und einem Dutzend Büchern hatte sie sich immer wieder auch theoretisch mit dem Märchen auseinandergesetzt. Und dies sei, so legte sie dar, die Quintessenz ihrer Forschung: daß es im Märchen einzig um Gewinn und Verlust gehe und daß demzufolge nur zwei Typen von Figuren auftreten — der Sieger und der Verlierer. Als wäre sie selbst einem Märchen entstiegen — gekrümmt, plötzlich, nie zu allen Anwesenden zugleich sprechend, sondern immer nur zu einem —, dozierte sie:»Alle Typen im Märchen sind dieser Dichotomie untergeordnet: die Klugen sind die Sieger, die Dummen die Verlierer, die Schönen sind die Sieger, die Häßlichen die Verlierer, die Bösen sind die Verlierer, die Guten sind die Sieger. «Das Märchen erzähle nicht von der Entwicklung einer Person — schon aus diesem Grund tauge es nicht zu didaktischen Zwecken —, sondern es liefere die Begründung für einen Zustand.»Warum ist dieser Mensch schön? Weil er ein Sieger ist. Warum ist er häßlich? Weil er ein Verlierer ist. Das Märchen kennt keine Moral. «Dem aufgeklärten Geist des frühen neunzehnten Jahrhunderts sei diese Tatsache freilich unerträglich gewesen, und so seien aus Märchen Kindergeschichten mit erhobenem Zeigefinger geworden. — Frau Sixarulize war, während sie sprach, durch den Raum gegangen, und als sie geendet hatte, sah sie sich um, und der einzige freie Sessel war hinten am Fenster, wo Emmy Noether neben Jossif Aszaturow saß. Also setzte sie sich zu ihnen.