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An diesem Abend war es anders. Ihr Schweigen hatte Inhalt: Es war ein Vorwurf. So empfand er es. Sie stapfte durch den Schnee, betonte dabei jeden Schritt, als wäre sie das den derben Profilsohlen ihrer Stiefel schuldig. Weil er nicht protestiert hatte? Weil er Pontrjagin nicht in die Schranken gewiesen hatte? Weil er dies einem Betroffenen, Aszaturow, überlassen hatte? Weil er so weit vom Fenster entfernt seinen Platz eingenommen hatte? — Seine Kommilitonen in Göttingen hatten ihn vor allen möglichen Gefahren in Moskau gewarnt, hatten die neue apokalyptische Reiterei aus Weltjudentum und Bolschewismus an die Wand gemalt (einige rieten ihm ohne Umschweife, er solle in Moskau Frau Dr. Noether, wenn irgend möglich, aus dem Weg gehen, schließlich trage sie beide Krankheiten in sich, und was in Deutschland in Latenz gehalten werden konnte, würde in Rußland voll ausbrechen) — daß ausgerechnet ästhetische Fragen zu einer Bedrohung werden könnten, das wäre nicht einmal in den hedonistischen Studentenkreisen Göttingens jemandem eingefallen. — Vielleicht aber, so dachte er, spinne ich ja nur meine Gedanken in ihren Kopf hinein (weil er seit drei Monaten seine Muttersprache fast nur noch verwendete, um über Mathematik zu reden). Vielleicht hatte Lawrentij Sergejewitsch mit seiner Philippika sie ja gar nicht verletzt, vielleicht ist ihr sein Sermon zum einen Ohr hinein und zum anderen hinaus. Vielleicht hatte es sie sogar amüsiert. Ganz bestimmt komisch war, wie Aszaturow als sein einziges Argument den Namen Stalin genannt und damit das Heer aus hegelianischen Spitzfindigkeiten weggeblasen und den Anführer in die Flucht geschlagen hatte. Alle hatten gelacht. Am Ende lachten nämlich auch Frau Dr. Noether und Frau Dr. Sixarulize. Vielleicht sogar Pontrjagin, wenn er draußen in der kalten Luft seine Tassen erst wieder ordentlich in den Schrank gestellt haben würde. Also wäre er, Carl, der einzige gewesen, bei dem es nicht einmal zu einem Grinsen gereicht hatte? Er hatte das Gefühl gehabt, nicht in ein Geheimnis eingeweiht zu sein. Als wäre der Abend ein kindliches Spiel in der Dunkelheit gewesen. Er war kein Kind, und er konnte sehen. Aber er wußte nicht, worauf es unter all den Dingen, die ihn umgaben, ankam.

Sie waren beim Durchgang der Bezirksparteizentrale am Vodootvodnyi-Kanal angelangt, wo die Stadtverwaltung ein weiteres Mal alle Herrlichkeit des Lichts ausgeschüttet hatte, und Carl sah im Gesicht seiner Professorin — und das um so klarer konturiert, weil es vom Passepartout ihrer Mützen eingerahmt war —: Resignation und machtlose Empörung — und, wie er weiter interpretierte und still für sich in Worte faßte, die unbarmherzig abschlägige Antwort auf die Frage, ob das Streben der Menschheit durch Kennerschaft und Nachdenken zu einem Sinn finden könne. Nichts gilt, wenn du nicht zu den Schönen oder wenigstens zu den halbwegs Schönen gehörst.

«Bin ich ein Kauz?«fragte sie.

«Ja«, antwortete er prompt. Weil er dachte, das ist eine Planke, an der sie sich festhalten möchte.

In der Reklame stand, die Stiefel verleihen einen festen Tritt. Damit war doch wohl gemeint, man habe einen sicheren Stand in ihnen, und nicht, man müsse fest zutreten. Und wenn sie ausrutschte und hinfiel? Bei ihrer Körperfülle würde sie große Schwierigkeiten haben, wieder auf die Beine zu kommen. Sie würde Carl bitten müssen, ihr zu helfen. Ihr Fallen wäre ein Plumpsen. Es würde die ästhetische Theorie von Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin illustrieren. Wenn ein Mensch in Gegenwart eines Dritten gedemütigt wird, so rechnete sich Carl vor, während sie an der lichtlosen Fassade des Restaurants Kolisej vorbeigingen (wo er manchmal, wenn ihm die Toleranz gegenüber den frugalen proletarischen Stolowajas riß, zu Mittag aß), dann sind drei verschiedene Wirkungen auf das Gemüt des Zeugen möglich: Mitleid, Gleichgültigkeit, Verachtung. Wobei die jeweilige Wirkung mehr davon abhängt, welche gesellschaftliche Stellung Zeuge und Gedemütigter einnehmen, als von dem persönlichen Verhältnis der beiden zueinander. Wenn der Gedemütigte gesellschaftlich unter dem Zeugen steht, wird der Zeuge — vorausgesetzt, er ist kein Psychopath — Mitleid empfinden und sich bei durchschnittlicher Courage mit ihm solidarisch zeigen. Nehmen beide die gleiche Stufe ein, wird der Zeuge recht wenig empfinden, ein bißchen Schadenfreude, wenn er den Gedemütigten nicht mag, ein bißchen Sorge, wenn er ihn mag. Steht der Gedemütigte allerdings über dem Zeugen, so wird ihn die Demütigung in den Augen des Zeugen unweigerlich verkleinern. Dagegen wird auch die klarste Vernunft des Zeugen nichts ausrichten können. Der Zeuge wird sich sagen: Es ist ungerecht, es ist nicht wahr, es ist bösartig. Aber das wird nichts nützen. Das Bild hat Schaden gelitten. Wie kann sich der Gedemütigte rehabilitieren? Was hätte Frau Professor Noether gegen Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin tun sollen, wenn schon ihr Assistent nichts getan hat? Ihn in eine Diskussion verwickeln? Seine Argumente zerpflücken? Damit hätte sie nur das Verfahren gegen sie akzeptiert.

In der Brodnikov-Straße sagte sie:»Ich wünsche mir, daß wir zusammen eine Tasse Tee trinken.«

6

Als sie das winzige Zimmer betraten, beschlugen sich Frau Dr. Noethers Brillengläser. Sie wischte sie am Bettüberzug ab, rückte den Sessel nahe an den Ofen heran, bat Carl, Platz zu nehmen. Einen zweiten Sessel gab es nicht, und einen Tisch gab es auch nicht. Das Zimmerchen war so eng, daß er, wenn er sich in die Mitte stellte und die Arme ausstreckte, jeden Gegenstand berühren hätte können. Bevor sie zu ihrer Vorlesung gegangen war, hatte sie ein paar Briketts auf die Glut gelegt. Sie zog eine flache Kiste unter dem Bett hervor. Darin waren säuberlich die Kohlenbarren gebettet. Sie nahm zwei heraus. Auch ein Schürhaken lag in der Kiste. Sie rüttelte vorsichtig die Asche in die Blechwanne unter der Glut und legte nach.

«Es ist alles sehr einfach hier«, sagte sie,»aber ich brauch’s nicht komplizierter.«

Sie hob die Kanne aus der Waschschüssel, die neben dem Bett auf dem Boden stand, und ging hinaus in den Flur, um sie mit Wasser zu füllen, schloß die Tür hinter sich, damit die Wärme im Zimmer blieb. Am Fußende des Bettes stand eine hohe Lampe mit einem Schirm aus purpurnem Samt, die ihr Licht auf das Sims unter dem Fenster warf, wo sauber Notizbücher von verschiedener Größe aufgereiht waren. Daneben waren eine Tasse, eine kleine Teekanne aus Steingut, eine Dose mit Tee, eine mit Kaffee, eine mit Keksen, ein Sieb, Löffel, Messer, Gabel aufgereiht. Weiters lagen hier ein Kamm, ein Stück Seife, eine Zahnbürste, eine Büchse mit Zahnputzpulver, ein langer Schuhlöffel und ein Reisenecessaire aus gefurchtem braunem Leder.

«Es ist besser hier, als Sie meinen«, sagte sie, als sie mit der Kanne zurückkam.»Hier zu wohnen ist eine Aufgabe, die jeden Tag aufs neue gelöst werden muß. Und das läßt unsereins doch irgendwie glücklich sein, habe ich recht?«

Sie goß einen Teil des Wassers in einen schwarzen Eisentopf, den stellte sie auf den Ofen.

«Das zum Beispiel ist mein Schreibtisch. «Sie griff hinter das Bett und zog ein Nudelbrett hervor.»Ein Geschenk von Frau Dr. Sixarulize. Wenn man sich erst daran gewöhnt hat, will man nichts anderes mehr. Versuchen Sie es!«Sie reichte ihm das Brett.»Stellen Sie die Füße auf die Bettkante, und legen Sie das Brett auf die Knie. Im Rücken wärmt der Ofen. Auf dem Fensterbrett wartet eine Tasse Tee. Nichts, was ablenkt. Ksenia hat mir versichert, so habe Wilhelm Grimm unsere schönen Märchen niedergeschrieben. Wenn das so ist, was soll man dagegen sagen?«