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«War Frau Dr. Sixarulize schon einmal hier?«

«Ja, freilich.«

Sie schnürte ihre Stiefel auf und gab ihnen einen Tritt. Auf dem Boden hatte sich eine Wasserlache ausgebreitet. Sie zog das Handtuch von dem Gestänge hinter dem Ofen und legte es darüber und setzte sich aufs Bett, die Füße steckte sie unter die Bettdecke.

«Wir könnten, bis das Wasser heiß ist, eine Zigarette rauchen, wenn Sie welche haben«, sagte sie.

Carl hatte aus Deutschland reichlich Tabak mitgebracht, und jeden Morgen, bevor er sein Zimmer im Leonjuk verließ, drehte er sich drei Stück für den Tag. Eine war noch übrig. Er reichte sie ihr hinüber und zündete ein Streichholz an.

«Und Sie?«fragte sie.

«Ich sehe Ihnen dabei zu.«

«Wir können sie gemeinsam rauchen. Ich verspreche, daß ich das Mundstück nicht zerkaue.«

Sie paffte nur. Der Tabak roch nach Vanille. Inzwischen hatte sich der Ofen aufgeheizt. Carl zog den Mantel aus und öffnete sein Jackett. Das Wasser dampfte. Er reichte ihr Teekanne, Sieb und Teedose, und sie goß auf. Er nahm einen kräftigen Zug von der Zigarette und warf den Stummel in den Ofen.

«Ich habe leider nur eine Tasse«, sagte sie.»Wenn es Sie nicht stört, trinke ich aus dem Schnabel der Kanne. Aber zuerst schenke ich Ihnen natürlich ein.«

Sie erzählte. Erzählte tatsächlich von sich. Zum erstenmal, seit sie sich kannten. Erzählte von ihrer Kindheit in Erlangen. Kein Wort über Mathematik. Sie sei kein besonders ansehnliches Kind gewesen und pummelig. Aber in ihren jungen Mädchenjahren sei sie schlank gewesen, und es sei ihr oft gesagt worden, wie herzig sie aussehe. Was ihr egal gewesen sei. Lieber wäre sie nämlich eine gute Turnerin gewesen. Ihre größte Angst hieß, über den Bock zu springen. Sie übte mit ihrem Bruder Fritz Bockspringen. Er buckelte sich, sie schlug mit ihren Händen auf ihm auf und grätschte über ihn drüber. Im Gymnastikunterricht aber, zu dem sie auf Anraten des Arztes von ihrer Mutter geschickt wurde, vergaß sie alles und traute sich nicht; sie nahm Anlauf und bremste und stieß gegen den Bock und prellte sich böse die Rippen. Sie besuchte die Höhere-Töchter-Schule in dem etwas heruntergekommenen Adelspalais in der Friedrichstraße 35 — einer Adresse, die die Herzen aller Erlangener Eltern, die aus dem Leben ihrer Töchter mehr herausholen wollten, habe höher schlagen lassen, denn nur dort sei große Bildung für kleine Frauenzimmer geboten worden. Emmy konnte das Palais nicht leiden, unten roch es nach Moder, oben nach Kreidestaub. Einmal habe sie sich darin verirrt. Sie war in der Zehn-Uhr-Pause über die Stiegen hinaufgelaufen, und der junge Studienrat Fasser war ihr auf den Stufen entgegengekommen, das Physikbuch in der Hand, ein sturer Spitzbauch, der den deutschen Kaiser ablehnte und dem preußischen König nachtrauerte, und sie, weil sie in ihrer Eile nur vor sich nieder auf den Boden schaute, sah ihn nicht und rammte in seinen Bauch wie in den Bock im Turnsaal, und er schlug ihr das Physikbuch über den Kopf. Der Studienrat hatte sie nämlich für irgendein Mädchen gehalten. Er war außer sich, als er sah, daß sie die Emmy war, nämlich die Tochter des wirklich ehrwürdigen Professors Max Noether, bei dem er sein Rigorosum abgelegt hatte. Er entschuldigte sich bei Emmy, wie er sich nicht einmal bei einem Erwachsenen entschuldigt hätte, wiegte dabei den Oberkörper wie ein Rabbi beim Kaddisch und schichtete Pyramiden von Schachtelsätzen über ihrem schmerzenden Kopf auf. Sie war so verwirrt, daß sie nur» Danke!«sagte und weiter über die Stiege in den zweiten Stock hinaufrannte. Aber sie vergaß, was sie dort gewollt hatte, und rannte bis in den dritten Stock, und zufällig stand die Tür, die in den Dachboden führte, offen, und so rannte sie über die staubigen Stufen weiter in den Dachboden und dort durch die nächste Tür und weiter über eine Wendeltreppe und über einen Steg unter dem Dachgiebel entlang, bis sie sich am Ende auf eine Kiste setzte und wartete. Sie wartete darauf, daß ihr der Reihe nach einfiel, was alles passiert war. Es fiel ihr aber nicht ein.

«Wie ging es weiter?«

«Man hat mich gefunden. Stunden später.«

Durch ihre Erzählung hindurch wartete Carl auf einen Satz von ihr, ungefähr so: Von diesem Moment an bin ich häßlich geworden. Oder: … merkte ich, daß ich häßlich bin. Oder: … merkten die anderen, daß ich häßlich bin. Wie sie die Geschichte erzählte, klang sie ihm nämlich wie eine Vorgeschichte.

Sie erzählte auch von ihrer Studienzeit, daß sie, sobald das entsprechende Gesetz beschlossen war, in Nürnberg ihr Abitur absolviert und zunächst englische Sprache und Literatur studiert habe, später erst Mathematik, und zwar bei ihrem Vater; und plötzlich sagte sie:»Der Pontrjagin denkt klar, aber er ist für meinen Geschmack zu talentiert. Weil ihm der Weg so wenig Mühe bereitet, bedeutet ihm das Ziel nichts. Interessant an seiner Überlegung ist doch nur eines: Schönheit geht in Schönheit unter. Schönes wird durch Schönes entwertet. Häßliches dagegen gewinnt unter Häßlichem an Kontur. Daraus schließe ich: Das Schöne ist eine Variable, das Häßliche eine Konstante. Damit aber wäre seine Vermutung widerlegt.«

«Welche Vermutung?«fragte Carl.

«Im einzelnen«, schloß sie, ohne auf ihn einzugehen,»müßte meine Argumentation freilich ausgebaut werden. Nur wird wohl niemand erwarten, daß ausgerechnet ich diese Deduktionen und obendrein ausgerechnet an meiner eigenen Person exemplifiziere.«

7

In der Eingangshalle vom Leonjuk wartete Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin auf Carl. Den Mantel weit geöffnet, kam er ihm mit flinken kleinen Schritten entgegengelaufen. In aller betrunkenen Förmlichkeit bat er um Verzeihung. Nie und nimmer habe er daran gedacht, daß seine Ausführungen von einem der Anwesenden als auf ihn gemünzt mißverstanden werden könnten. Er schlug sich mit dem weichen Teil der Fäuste gegen die Schläfen.»So tue ich schon den ganzen Abend!«rief er leise.»Nennen Sie einen Preis, Herr Doktorand! Was kostet bei Ihnen eine Beleidigung? Ich werde bezahlen, ohne zu feilschen. «Er sei sogar bereit, als Gegenleistung ein paar kompromittierende Geheimnisse aus seinem Leben anzubieten. Carl sagte, er solle verschwinden und ihn in Ruhe lassen. Pontrjagin winselte, das werde er gewiß tun, aber erst solle er ihn zu Frau Professor Noether führen, damit er wenigstens die Möglichkeit habe, sie zu fragen, ob er auch sie um Verzeihung bitten dürfe. Bei Jossif Aszaturow habe er sich bereits entschuldigt, und der habe die Entschuldigung angenommen. Frau Dr. Sixarulize, das wisse er, nehme ihm nichts im Leben übel, das wisse er, dennoch werde er sich morgen als erstes bei ihr nach seiner Sühne erkundigen, alles auf einmal könne er heute abend nicht wiedergutmachen. Er habe leider keine Ahnung, wo Frau Professor Noether wohne, außerdem fürchte er, sie werde ihm nicht die Tür öffnen. Aber wenn er in Begleitung von Carl Jacob Candoris zu ihr komme, werde sie die Tür öffnen.

Carl wiederholte, er solle verschwinden.

Pontrjagin hielt ihn am Mantelkragen fest, sehr fest, und sagte, nun ohne jede Weinerlichkeit in der Stimme:»Sie sind ein Mensch, der noch nie in seinem Leben beleidigt worden ist, habe ich recht? Ich habe recht. Deshalb wissen Sie nicht, wie weh so etwas tut. Und deshalb wissen Sie auch nicht, wie sehr ein Beleidigter danach dürstet, daß man sich bei ihm entschuldigt. Wenn Sie mich nicht zu Frau Professor Noether führen, sind Sie wenigstens für die Hälfte des Schmerzes, der sie in dieser Nacht quälen wird, verantwortlich.«

Inzwischen schneite es noch heftiger. Sie schlugen den Kragen hoch und beugten sich vor, um das Gesicht zu schützen. Pontrjagin stapfte ein paar Schritte vor Carl her, bei Wegkreuzungen wartete er. Auf seinen Schultern und seiner Mütze waren kleine Schneehügel, die von Kreuzung zu Kreuzung breiter und höher wurden. Als sie oben auf der Bolotnaja am Vodootvodnyi-Kanal entlanggingen, sagte Pontrjagin, es wäre besser, den Weg direkt unten am Wasser zu nehmen, dort streiche der Wind über sie hinweg, dort könnten sie sich besser unterhalten.