«Worüber sollten wir uns unterhalten?«fragte Carl. Die Treppen, die nach unten führten, waren von Schnee überweht, so daß man die einzelnen Stufen nicht sehen konnte. Carl kannte die Stelle, der Weg am Wasser entlang endete nach ein paar hundert Metern, dort hätten sie wieder über eine Treppe hinaufsteigen müssen.»Spielen Sie mir Theater vor?«
Pontrjagin ergriff sein Handgelenk.»Ist es noch weit?«
«Erst möchte ich, daß Sie mir sagen, was Sie von Frau Professor Noether wirklich wollen?«
«Ich kann mir denken«, entgegnete Pontrjagin etwas atemlos, obwohl er sich nicht von der Stelle rührte,»daß Sie sich wundern, weil ich nicht weiß, wo Frau Professor Noether wohnt …«
«… wo Sie doch genau wissen, wo ich wohne«, ergänzte Carl sarkastisch.
Pontrjagin ließ Carls Hand nicht los.»Ich denke mir«, sagte er,»wir beide sollten zuerst unseren Kasus bereinigen, bevor ich mit Frau Professor Noether rede.«
Er war nicht mehr betrunken, und Carl vermutete, er war es auch in der Halle des Hotels nicht gewesen.»Was haben wir beide denn für einen Kasus?«äffte er ihn nach.
«Als ich im Hotel auf Sie wartete, dachte ich mehr über Sie nach als über Frau Professor Noether. Frau Professor Noether ist eine bemerkenswerte Wissenschaftlerin, aber sie ist kein komplizierter Mensch. Ein Bedürfnis nach Rache ist ihr sicher fremd. Und daß jemand sogar Lust auf Rache empfinden könnte, daß er sich eine Beleidigung sogar wünscht, nur um einen Grund zur Rache zu haben, das würde sie nicht verstehen können. Wenn sie ja sagt, meint sie ja, wenn sie nein sagt, meint sie nein. Dagegen in Ihrem Denken, mein lieber Doktorand, spielen die Worte ja und nein gar keine Rolle, außer zu dekorativen Zwecken. Allerdings glaube ich auch nicht, daß Rache Ihnen etwas bedeutet. Sie mögen es, sich etwas gutschreiben zu können. Destruktive Affekte stören. Carl Jacob Candoris verliert nie die Contenance. Er hat Zutritt zu jedem Haus. Nirgends ist er fehl am Platz. Überall wird er erwartet. Nicht überschwenglich, aber mit Respekt. Seine liebste Temperatur liegt um die fünfzehn Grad Celsius. Er mag es kühl. Eigentlich ein Geschäftsmann. Aber ich glaube, auch das ist nur Schein. Ich glaube, ich kenne Sie besser.«
«Warum haben Sie mir im Hotel einen Betrunkenen vorgespielt?«
«Ach, hören Sie! Das ist doch leicht zu erraten. Man verzeiht dem Betrunkenen mehr als dem Nüchternen.«
«In Rußland vielleicht.«
«Werden Sie nicht chauvinistisch! Alle Welt liebt die Romane von Tolstoi, und Tolstoi war ein Trinker. Wußten Sie das nicht?«
«Das wußte ich nicht.«
«Ich bedaure, daß wir zwei uns nicht schon im September letzten Jahres gekannt haben! Wir hätten gemeinsam zu den wunderbaren Feierlichkeiten nach Jasnaja Poljana fahren können! Sie wären begeistert gewesen. Die vielen Menschen! Die Farben! Die Menschen haben sich mit Dingen geschmückt, die ihnen längst nichts mehr bedeuteten. Was für ein wunderbarer Ort! Alle Welt liebt Tolstoi. Leider lag Gorki schwerkrank in Moskau. Er hätte die Hauptansprache halten sollen. Aber Lunatscharskij hat ihn überaus würdig vertreten. Seine Rede hätte Ihnen gefallen. Er hat auch Tolstois Religiosität gewürdigt. Obwohl unsere Sowjetunion ein atheistischer Staat sei, zeige die Regierung Delikatesse gegen alle religiösen Überzeugungen. Im Gegensatz zur Zarenregierung. Aber was, wenn die Menschen die Religion nicht mehr wollen? Wenn sie all die Devotionalien, die sich in ihren Häusern angesammelt haben, loswerden wollen? Soll man den Menschen etwa Religion befehlen, nur damit das Ausland keinen Grund hat, uns zu verleumden? Carl Jacob! Wie wäre es, wenn Sie und ich im Frühling nach Jasnaja Poljana führen? Sie bräuchten sich um nichts zu kümmern, ich würde alles organisieren. Als Gegenleistung für mein unhöfliches Benehmen. Vielleicht haben Sie recht, und Tolstoi war gar kein Trinker. Aber Beethoven war einer, und Ihr Mozart war, soviel ich weiß, auch einer. Darum verzeihen wir ihnen ihr Genie und hören ihnen um so lieber zu. Haben Sie nie darüber nachgedacht?«
«Und euer Stalin, ist er auch ein Trinker?«Es war ein matter Versuch von Carl, in die Kerbe zu hauen, die Aszaturow geschlagen hatte.
Eine Weile behielt Pontrjagin seine Hingerissenheit im Gesicht. Schließlich sagte er:»Sie enttäuschen mich ein wenig, Carl Jacob.«
«Halten Sie Ihr Angebot noch aufrecht, Lawrentij Sergejewitsch?«fragte Carl.»Daß ich Ihnen einen Preis für die Beleidigung nennen soll?«
Pontrjagin vollführte einen höfischen Knicks. Carl holte aus und schlug ihm die Faust mitten auf den Mund — eigentlich nur deshalb, weil er ihn nicht ein zweites Mal» ein wenig «enttäuschen wollte.
Der kleine Mann rührte sich nicht. Staunend blickte er Carl gerade in die Augen, das Blut quoll aus den Lippen und färbte das Kinn und tropfte auf seinen Mantel.
«Das führt Sie zu keinem guten Ende«, sagte er leise und fügte mit kräftiger Stimme hinzu:»Erstaunlicherweise und entgegen der Meinung, die ich noch vor einer Minute über Sie geäußert habe, tun Sie doch Dinge, die sich auf Ihrem Konto nicht gutschreiben lassen, Carl Jacob Candoris. «Er griff in die Manteltasche, zog ein großes Taschentuch hervor und hielt es vor den Mund.
Carls Hand brannte, der Schmerz stach in den Ellbogen hinauf und setzte sich bis unter die Achsel fort. Er fürchtete, ein Knochen könnte gebrochen sein. Wenn er die Finger spreizte, hätte er aufschreien wollen. Seine Gedanken überschlugen sich und breiteten in Geschwindigkeit verschiedene Szenarien vor ihm aus, schieden Wahrscheinliches von Unwahrscheinlichem und sortierten die Elemente des Wahrscheinlichen nach der Qualität der Gefahr, die ihm drohte.»Das ist eben mein Preis für eine Beleidigung«, preßte er trotzig hervor und versuchte erst gar nicht, selbst daran zu glauben.
«Wer hat Sie denn beleidigt?«fragte Lawrentij Sergejewitsch.
Der Schlag war härter ausgefallen, als Carl beabsichtigt hatte. Er hatte Pontrjagins Wange treffen wollen. Beim Aufprall hatte er den Widerstand der Zähne auf den Knöcheln gespürt. Das Blut sickerte durch das Taschentuch und fiel in langen Fäden vor dem Mann in den Schnee.
«Tun Sie Schnee auf die Lippe«, sagte Carl,»dann hört es gleich auf.«
Pontrjagin kniete sich nieder und rieb sich das Gesicht mit Schnee ein. Gleich war der Schnee um ihn herum voller Blut.»Ich vertrete die Auffassung«, sagte er, und es klang sogar heiter,»es wäre anständig gewesen, mich nicht in dieser Weise zu überraschen. Wenn Sie ein anständiger Mensch wären, Carl Jacob Candoris, hätten Sie mich zu einem Boxkampf aufgefordert. «Er häufte Schnee in das Taschentuch und band die Enden zusammen, erhob sich, legte den Kopf in den Nacken, drückte sich diese Kompresse auf Nase und Mund und redete munter weiter, was nun so klang, als habe er einen Schnupfen:»Ich hätte mich ehrenhalber nicht gewehrt, aber ich wäre wenigstens vorbereitet gewesen. «Und fügte hinzu:»Sie brauchen mich jetzt nicht mehr zu Frau Professor Noether zu führen. «Er wischte seine Rechte am Mantel ab und hielt sie Carl hin:»Leben Sie wohl, Carl Jacob Candoris!«
Lawrentij Sergejewitsch stand nahe beim Treppenabgang, hinter ihm eine flimmernde Wand aus Schneeflocken. Carl schlug noch einmal zu, diesmal mit der unverletzten Linken und nicht gegen das Gesicht von Lawrentij Sergejewitsch, sondern gegen dessen Brust, und hinter diesen Schlag legte er das Gewicht seines Körpers. Lawrentij Sergejewitsch kippte über die oberste Stufe und fiel. Carl hörte den Aufschlag auf dem dünnen Eis und hörte das Wasser, als das Eis brach.