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Carl bezeichnete Abe als den besten Freund, den er in seinem Leben gehabt habe. Wahrscheinlich war er auch sein einziger. (Mein Vater war nicht sein Freund, er war mehr: Mitglied der Familie.)

Und so hatten sie sich kennengelernt: Zusammen mit der Journalistin, an deren Namen sich Carl nicht mehr erinnerte, hatte Abe im Frühling 1935 die Oak Bar betreten, um ihn für die Fahrt nach Kinnelon abzuholen. Die Journalistin hatte sich bei Abe eingehängt und zog ihn hinter sich her. Carl saß in der Ecke unter einem der wuchtigen Gemälde von Everett Shinn. Er glaubte nicht einen Augenblick lang, daß die beiden ein Paar waren. Er wunderte sich, daß die Frau, ohne zu zögern, auf ihn zusteuerte, als hätte sie ihn schon einmal gesehen. Sie stellte zuerst Abe vor —»Student der Psychologie, Freudianer«—, anschließend sich selbst: Sie sei eine Feindin von Adolf Hitler und Reporterin beim New Yorker und habe diese Stelle auf Empfehlung einer Freundin von Dorothy Parker bekommen, eine Stelle sei es ja eigentlich nicht, sie arbeite auf freier Honorarbasis, was aber auch sein Gutes habe … und so weiter. Ihr gehörte der braune Packard mit dem cremefarbenen Stoffdach. Es war ein warmer Tag, und sie bestand darauf, mit offenem Verdeck zu fahren. Carl saß hinten im Fond. Während der Fahrt legte Abe seinen Arm über die Rückenlehne und sprach nur nach hinten zu Carl; er kam zwar selten zu Wort, denn meistens redete die Journalistin, aber auch wenn sie redete, blickte Abe nicht sie an; er hatte Augen allein für Carl. Abraham Fields war homosexuell.

Als sie in der Nacht nach der Party wieder in New York waren, erzählte ihm Abe sein ganzes Leben. Sie hatten sich von der Journalistin beim Times Square absetzen lassen und waren durch die laue Luft über die Seventh Avenue nach Norden in Richtung Central Park spaziert. Carl schlug vor, in einer Bar noch ein Bier zu trinken. Am liebsten hätte er das Plaza gar nicht mehr betreten. Er rechnete nicht damit, aber er fürchtete sich davor, daß Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin in der Halle auf ihn wartete, wie damals im Leonjuk in Moskau, diesmal als ein Geist, mit einer Eiskruste am Kragen. Abe hatte sehr wohl bemerkt, daß Carl nach dem Zusammentreffen mit seiner ehemaligen Professorin verwirrt und niedergeschlagen war; aber er hatte den Grund dafür im Schicksal dieser freundlichen Frau und in der gegenwärtigen politischen Situation Deutschlands vermutet. Als er sich schließlich bewußt wurde, daß die ganze Zeit über nur er gesprochen hatte, war es zu spät, um innezuhalten und zu sagen: So, jetzt sind Sie dran. Carl gefiel ihm, und er hatte die Erfahrung gemacht, daß Männer, deren homoerotische Neigungen nur wenig ausgeprägt waren, dieselben leichter aktivieren, wenn man ihnen mit brüderlichem Trost kam und nicht gleich mit direkter Verführung. Er aber hatte weder brüderlichen Trost gespendet, noch hatte er versucht, Carl zu verführen. Er fürchtete, er habe alles vermasselt.

Zu seiner Überraschung fragte Carclass="underline" »Haben Sie ein Sofa, auf das ich mich heute nacht legen kann?«

Abe bewohnte ein kleines Appartement auf der West Side, Höhe 79. Straße. In der Küche stand tatsächlich ein Sofa. Am nächsten Tag bereits zog Carl aus dem Plaza aus und bei Abe ein. Carl bestand darauf, Miete für das Sofa zu bezahlen.

Carclass="underline" »Wir hatten eine ›krokantartige Affäre‹, Abe und ich. Copyright auf diesen Terminus technicus: Magistra Margarida Candoris Durao, wie sie sich so unkorrekt wie nur möglich nannte. Als Terminus technicus wollte sie dieses Wort auch verstanden wissen, denn sie interessierte sich vor allem für das Technische an dieser Affäre. Als wir schon dreißig Jahre oder noch länger verheiratet waren, habe ich ihr davon erzählt. Weißt du, was sie sagte? Sie sagte: ›Überleg dir, Charly, ob du damals nicht vielleicht die falsche Entscheidung getroffen hast.‹ Margarida glaubte, alle Männer seien homosexuell! Sie stellte sich das Männerherz als eine Crème brûlée vor, auf der eine harte, dünne Krokantschicht liege. Darunter aber tümple ein Reservoir süßer Männerliebe. Aus diesem Bild heraus nannte sie meine Freundschaft zu Abe eine ›krokantartige Affäre‹. Ich habe sie natürlich darauf aufmerksam gemacht, daß die harte Schicht auf Crème brûlée aus kandiertem Zucker und nicht aus Krokant besteht. Aber solche Kleinigkeiten sollen doch nicht stören dürfen, wenn eine Portugiesin durch den Bilderreichtum der deutschen und der französischen Sprache berserkert. Sie war sehr neugierig, wollte alles wissen, und als ich ihr dezidiert sagte, daß ich ihr keine Details liefern werde, hat sie sich eben welche ausgemalt. Margarida konnte sehr derb sein, in Wort und Tonfall, sehr vulgär. Sie war ja nicht eifersüchtig. Eifersucht kannte sie nicht. Sie konnte sich dieses Gefühl wahrscheinlich nicht einmal vorstellen. Es spielte keine Rolle für sie. Warum nicht? Weil es für sie keine Macht gab, die dem Bündnis, das wir beide nun einmal geschlossen hatten, etwas anhaben konnte. Darum. Wenn ich ihr die mysteriöse Geschichte von Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin und mir im Winter in Moskau am Vodootvodnyi-Kanal erzählt hätte, daß ich all die Jahre im Glauben gelebt hatte, ein Mörder zu sein, sie hätte Verständnis gehabt, sogar noch, wenn ich tatsächlich ein Mörder gewesen wäre. Sie hätte mich angesehen mit ihrem unerschrockenen Mussoliniblick und mir zu verstehen gegeben, daß es für sie nur eine Moral gebe, nämlich unser Bündnis, und daß unmoralisch nur sei, was dieses Bündnis gefährde. Aber ich habe ihr diese Geschichte nicht erzählt. Sie hätte mich in ihren Augen über die Maßen interessant erscheinen lassen.«