Manche Geschichten wollte Carl in eine präzise kalkulierte Choreographie gebettet sehen. Schon zu Anfang meines Besuches hatte ich vermutet — und es auch in C.J.C. 1 niedergeschrieben —, daß er nicht einfach sein Leben vor mir nacherzählen, sondern daß er es inszenieren wollte; daß er sich vorher genau überlegt hatte, in welche Themenkreise er es aufteilen und auch welche Schauplätze als szenischen Hintergrund zu welchen Geschichten er auswählen wollte. In C.J.C. 4 steht dazu die folgende Überlegung. Sie ist im Zorn geschrieben, und zwar am zehnten Abend meines Besuches — also genau in der Mitte unserer Zeit. Es war der einzige Abend, den ich nicht gemeinsam mit Carl und auch nicht in seinem Haus verbracht habe, sondern unten in Innsbruck im Hotel Central.
Die Themen legt er fest, zum Beispieclass="underline" die Meister — Edith Stein, Emmy Noether, Abraham Fields. Oder die Schüler — Georg Lukasser, Agnes Lukasser, Sebastian Lukasser. Oder die Geheimnisse — Pontrjagin, die» krokantartige Affäre«. (Das dritte Geheimnis kannte ich in der zehnten Nacht noch nicht, das hatte er sich für den Schluß aufgespart.) Die Ausgestaltung der Themen aber gibt er frei für die Improvisation — nämlich durchaus für meine Improvisation. Duke Ellington soll einmal gesagt haben, die Melodien, die Duke Ellington einfallen, seien zu gut, um sie Duke Ellington allein zu überlassen, alle Musiker des Orchesters sollen glauben dürfen, sie hätten an dem großen Werk teilgehabt. Nur Egomanen wie der Duke oder Carl, die mit jedem zu sprechen bereit sind, aber niemandem zuhören, schaffen es, sich einzubilden, jeder Mensch auf der Welt könne nicht anders als glücklich sein, wenn er von ihnen eine Rolle zugewiesen bekommt. Sein Leben soll ich erzählen? Nicht mehr und nicht weniger? Ja. Aber das ist nur ein Teil der Inszenierung. Am Ende seines langen Lebens will er dem langen Leben den lebenslang vermißten Sinn geben, indem er es zu einer großen Symphonie verkomponiert, besser: zu einer Oper — aufzuführen über mehrere Wochen in der Villa Candoris in Lans. Wem es an Genie mangelt, um ein großer Dichter, Musiker, Künstler zu werden — oder ein großer Mathematiker —, der aber ein Leben lang den Genius so inbrünstig angebetet und unter dem Mangel gelitten hat und sich mit der ihm nicht gewährten Bevorzugung partout nicht abfinden kann, was bleibt dem anderes übrig, als sein Leben selbst zu einem Kunstwerk zu erklären? Die Medici haben ihr Leben zu einer Stadt arrangiert — nicht sie waren Florentiner, Florenz war eine Medici. Shakespeare ist von seinem Genius restlos okkupiert worden, so daß wir für vierhundert Jahre Material hatten, um über den Hamlet nachzudenken, aber so gut wie nichts über seinen Schöpfer wissen. Der Genius ist eine Quelle, hinter der immer mehr ist, als aus ihr fließt. Also besteht wenigstens theoretisch die Möglichkeit, daß die wahre Größe des eigenen Daseins, als es noch dauerte, lediglich nicht bemerkt worden war; daß es also erst am Ende in der Inszenierung in ihrer werkhaften Dimension erfaßt wird — von den anderen, aber vor allem von ihm selbst. Inszenieren ist natürlich ein viel zu schwaches Wort — neu schaffen will er sein Leben aus der Erzählung. Hinter seiner Bewunderung für meinen Vater vermute ich heute Herablassung. Sein überwältigendes Selbstvertrauen gab meiner Phantasie stets zu verstehen: Letztendlich sind auch Michelangelo, Mozart, Shakespeare, Einstein — und Georg Lukasser — nichts weiter als Zuträger jener wahren Auserwählten, die reich genug oder clever genug oder kultiviert genug sind, um deren Werke zu genießen. Zu diesen Auserwählten zählt er sich ohne Zweifel. Erstere mögen Sieger sein in einem mystischen Ringen mit ihrem Genius, letztere sind Gewinner, und zwar in einem handfesten, meist sogar handfest materiellen Sinn. Sein Leben lang hatte er es verstanden, den innersten Kern unter dem Pingpong seiner Ironie zu verbergen; um ein Die-Wahrheit-und-nichts-als-die-Wahrheit geht es ihm in seiner» Lebensbeichte «nicht, wohl auch nicht um die Inventur, die er mir vorlegen wollte, mir, dem» einzigen Menschen von all jenen, die ich geliebt habe, der noch lebt«, wie die Lockformel lautete. Und worum geht es ihm wirklich? Um die Befriedigung seiner Eitelkeit? Das ist Tarnung. Es geht ihm um Rache, um eine advokatenhafte Rache. Was er vor mir inszeniert, ist die Generalprobe für das Plädoyer, das er halten will, wenn er als Ankläger vor den lieben Gott tritt: Warum hast du den Genius an mir vorüberziehen lassen?
Als ich das in mein Schulheft geschrieben hatte, ging es mir besser.
3
Die Geschichte von der» krokantartigen Affäre «schien Carl nicht in die Kulisse eines vom Kaminfeuer erwärmten Salons zu passen und paßte ihm auch nicht zu einem Spaziergang durch das Dorf und, trotz ihres Copyrights auf den Titel, natürlich auch nicht vor das Grab von Margarida. Er rief den Bürgermeister von Lans an, bat ihn um den Schlüssel zum Gatter im Zaun des Sees. Er wünsche, den See zu sehen, er fürchte, er könne nicht mehr bis zum Frühling warten, wenn die Tore wieder für die Allgemeinheit geöffnet werden. Daß Professor Candoris nun wirklich nicht zur Lanser Allgemeinheit gehörte, bewies der Bürgermeister, indem er knapp zehn Minuten später persönlich an der Tür klingelte und den Schlüssel in Carls Hände legte.
Draußen schneite es so dicht, daß man nicht einmal bis zu den Tannen sehen konnte; aber Carl bestand darauf, daß ich ihn — und zwar sofort — im Rollstuhl über die Auffahrt hinunter zur Lanserbahn, weiter auf dem Weg an den Geleisen entlang und, wie auch immer ich das zustande brächte, über die Stufen hinunter zum See führe. Frau Mungenast war empört. Nicht um seine Gesundheit sorgte sie sich, sondern diesmal um die meine. Der Arzt habe Herrn Sebastian verboten, zwei Mineralwasserflaschen auf einmal zu heben, also dürfe er bei so einem Wetter sicher nicht einen Rollstuhl schieben, sagte sie. Der Herr Sebastian, sagte Carl — noch meinte ich, es sei ihm lediglich ein ironisches Spiel, bei dem er ihren Tonfall aufnahm —, wisse sehr genau, daß die Würde des Menschen nichts weiter sei als die Behauptung, er habe eine, und sie deshalb um so wirkungsvoller auftrete, wenn man Dinge tue, die man nicht dürfe. Frau Mungenasts Lider senkten sich über ihre schönen braunen Augen, ihre Lippen schlossen sich, ihr Gesicht nahm einen abwesenden Ausdruck an, sie zog sich die Ärmel über die Handgelenke und sah zu mir herüber; schließlich wurde ja über mich verhandelt. Auch Carl blickte mich an. Aber ich sagte nichts. Er wandte sich wieder ihr zu, und nun war sein Ton greifbar streitsüchtig und arrogant. Ob sie tatsächlich meine, Rollstuhl plus Inhalt seien bei Schneetreiben schwerer als bei Sonnenschein. Der Rollstuhl sei selbstverständlich nicht schwerer, antwortete sie redlich, aber schwerer zu schieben sei er auf jeden Fall. Ach so, rief Carl aus, er habe sie wohl nur falsch verstanden.»Sie haben mich richtig verstanden«, sagte sie leise. Ich dachte wieder, ich würde gern eine Stunde mit ihr allein sein und ihr meine Sorgen erzählen. Ich nahm mir vor, wenn sie heute über Nacht im Haus bliebe, an ihre Tür zu klopfen.