«Wir werden den unteren Weg nehmen«, sagte ich mehr zu Frau Mungenast hin als zu Carl.»Der führt durch den Wald und ist nicht so steil.«
«Den werden wir selbstverständlich nicht nehmen«, schnitt mir Carl das Wort ab.»Der ist nicht gebahnt. Dort bleibst du mit den vorderen Rädern stecken.«
«Ich kann den Rollstuhl ein wenig nach hinten kippen. Das ist für dich auf alle Fälle sicherer, und für mich ist es leichter.«
«Damit ich dasitze wie bei einer gynäkologischen Untersuchung.«
«Es sieht uns ja niemand.«
«Du siehst mich zum Beispiel.«
«Ich geh hinter dir, ich sehe dich nicht. Außerdem, wenn wir vorne über die Stiege zum See hinuntergehen, muß ich den Stuhl ja auch kippen.«
«Aber das ist unter den Bäumen, dort sieht uns wirklich niemand. Und es ist nur ein kurzes Stück.«
«Aber im Wald ist es doch auch unter den Bäumen.«
«Aber ich will es nicht!«
«Aber ich denke, es ist zu gefährlich. Wenn ich im Schnee ausrutsche, kann ich vielleicht den Rollstuhl nicht halten. Es ist für dich gefährlich, verstehst du? Der Weg unten herum ist eher flach, und die Bäume stehen dicht, dort wird auch nicht soviel Schnee liegen.«
«Wir werden es halten, wie ich gesagt habe«, beharrte er.»Wir gehen oben.«
«Und warum wirklich?«
Keine Antwort.
Er hatte Schmerzen. Das Morphium, das aus dem Pflaster in seine Haut diffundierte, war aufgebraucht. Und die Schmerzen zerrten an seinem Gesicht, teilten es in die Greisenhagerkeit der Wangen und die kindlich rosa Hügelchen über den Backenknochen und verstärkten den Zug von Häme, den ich anfänglich den falschen Zähnen zugeschrieben hatte und dem es immer wieder gelang, diesen Mann in meinen Augen klein zu machen, mäkelig, seine erhabene Kälte fort zu blasen.
Ich wollte ihn aufheitern.»Außerdem«, feixte ich,»brauchst du dich vor einem Herrn in den oberen mittleren Jahren, der sich eine Windel in die Hose klemmt, weil er das Wasser nicht halten kann, nicht zu schämen.«
Ohne mich anzusehen, sagte er:»Ich schäme mich gewiß nicht vor dir. «Das hat mir doch etwas weh getan, zumal er es vor Frau Mungenast gesagt hatte.
«Verschieben Sie Ihren Ausflug doch auf morgen«, versuchte nun sie zu vermitteln.»Morgen ist besseres Wetter. Und heute abend werde ich das Pflaster wechseln.«
«Erstens ist das kein Ausflug«— Carl hackte die Worte in Richtung ihres Gesichts —»sondern ein simpler Fußmarsch von nicht einmal zehn Minuten.«
«Und zweitens?«fragte ich. Was frech war.
Er drehte mir langsam den Kopf zu und sagte:»Willst du mir dein Leben erzählen?«
Wir hielten es, wie er es wollte.
Der See lag unter einer weißen Decke, mit dem Auge ließ sich nicht feststellen, wo er begann und was noch begehbares Ufer war; es auszuprobieren war zu riskant. Carl wünschte, daß ich ihn über die flachen Stufen hinauf zur Terrasse des Cafés schiebe; er wollte unter dem fröhlich luftigen Vordach mit dem filigranen, rosa, hellblau und türkis gestrichenen Gestänge sitzen und hinunter auf den See schauen; wie er es in den Sommermonaten an den frühen Vormittagen tat — getan hatte. Der Weg war nicht zu erkennen; aus den nur angedeuteten Wellen auf der Schneedecke ließ sich erraten, wo die Stufen waren. Ich gebe zu, zuerst stellte ich mich absichtlich ungeschickt an; ich wollte ihm demonstrieren, daß es unmöglich war, ihn und den Rollstuhl die zwanzig Meter zur Terrasse hinaufzubefördern. Der Schnee reichte Carl bis an die Waden, es war, als würde ich einen Pflug vor mir herschieben. Carl war ungeduldig, klopfte mit seinen behandschuhten Händen auf die Armlehne. Die Decke, in die ihn Frau Mungenast gewickelt hatte, war weiß wie das Federbett eines Kindes, und auf seinem Hut lag ein weißer Pelz. An den Reifen pappte der Schnee. Bald tat ich nicht mehr absichtlich ungeschickt, ich nahm meine Kraft zusammen, biß auf die Zähne, daß die Kiefer schmerzten und der Schweiß an Nacken und Rückgrat mein Hemd durchnäßte. Ich spürte die Narbe in meinem Unterleib. Sicherheitshalber hatte ich meine Unterhose dreifach ausgepolstert.
«Es ist nicht möglich«, sagte ich. Mein Herz raste, und mir war ein wenig schlecht.
«Wir können nicht hier mitten im Schneetreiben stehenbleiben«, maulte er — ja, es war ein Maulen, ein weinerliches und zugleich flegelhaftes Maulen; mir wäre lieber gewesen, er hätte mir einen soldatischen Befehl erteilt.
«Wir könnten uns unter das Dach bei den Umkleidekabinen stellen«, sagte ich.
«Ich war noch nie bei den Umkleidekabinen. Soll ich mit den Schulkindern Tischtennis spielen? Außerdem sehen wir von dort den See nicht.«
«Es ist nichts zu sehen vom See.«
«Dreh den Rollstuhl um«, befahl er nun doch,»dreh ihn um und kratz den Schnee vorne weg! Versuch, ihn zu ziehen! An den Vorderrädern liegt es, immer liegt es an den Vorderrädern! Die Rollstühle sind unüberlegt gebaut.«
«Laß es uns morgen versuchen«, bat ich.»Ich habe nicht die Kraft dazu, und die Kraft, die ich habe, brauche ich, um wieder den Weg hinauf zur Straße zu kommen. Sonst sitzen wir tatsächlich hier unten fest.«
«Gut«, sagte er,»ich biete dir einen Kompromiß an. Nach Hause gehen wir über den hinteren Weg durch den Wald. Das ist leichter für dich. Die überschüssige Kraft kannst du hier einsetzen.«
«Nein«, sagte ich,»ich weiß, was ich nicht tun will!«
«Gut. Hilf mir auf! Dazu wirst du ja noch Kraft genug haben. Ich werde gehen! Gib mir deinen Arm!«
«Auch das will ich nicht tun!«
«Gut. Ich werde ohne deine Hilfe gehen!«
«Das ist absurd!«rief ich.»Was um Himmels willen ist denn so wichtig, daß es unbedingt heute dort oben geschehen muß?«
«Was bildest du dir ein!«fuhr er mich an.»Für mich ist ein Tag wie für dich ein Jahr. Wie würde es dir gefallen, wenn ich sagte, leg dich hin, hab Geduld, es dauert ohnehin nur ein Jahr, bis du wieder ohne Windeln draußen herumspazieren kannst?«
Ich stampfte mit den Schuhen zwei Fahrspuren hinauf zum Café, für jedes Rad eine, übertrieb dabei meinen Hinkegang, als wäre ich Quasimodo, kippte den Rollstuhl und balancierte ihn rückwärts auf den Hinterrädern Schritt für Schritt nach oben. Und ich holte grob aus dabei, zerrte und riß und schüttelte, und ich sah, wie seine dürren Schultern unter jeder dieser Bewegungen zitterten und wie der Schnee von der Krempe seines Hutes auf seine Schultern und seine Brust fiel. Aber schließlich waren wir oben. Oben auf der Terrasse des Strandcafés, wo ich so oft gesessen und mir vorgeträumt hatte, ich sei auf den Salomon-Inseln oder auf Tristan da Cunha oder irgendwo im Amazonasdelta oder in einer Wüstenoase, ein stefan-zweigscher Emigrant oder ein joseph-conradscher Abenteurer.
«Es wird schon nichts in deinem Bauch kaputtgegangen sein«, kicherte er, und ich merkte wohl, das war nicht mehr zynisch gemeint, es sollte ein Kumpanenscherz sein, seine Art, sich bei mir zu entschuldigen, und augenblicklich war Frieden zwischen uns.
Aber dann verließ ihn der Mut.
«Ich weiß ja, daß Abe unsere Geschichte lang und breit vor dir ausgewalzt hat«, sagte er.»Ich brauche sie also nicht zu wiederholen. Wir hätten uns den Weg hierher tatsächlich sparen können. Bau eine kleine Novelle daraus! Das soll ja deine Stärke sein, habe ich mir sagen lassen. Material hast du genug, denke ich doch. Es war ein knappes Jahr wie im Fieber. Weiter kein Wort von meiner Seite darüber! Mach einen Libertin aus mir — ganz, wie du willst. Schreib: Die große Freiheit beginnt, wenn das große Gewissen abgeschafft ist. Ich habe sechs Jahre mit dem Gedanken gelebt, einen Mann getötet zu haben — und nicht in Notwehr und nicht im Affekt! Es war Mord. Bevor ich Lawrentij Sergejewitsch die Faust gegen die Brust schlug, hatte ich mir gedacht: Gleich werde ich etwas tun, was ich bisher in meinem Leben nicht für möglich gehalten habe. Ich hatte es nicht einfach nur in Kauf genommen, daß er an dem Schlag sterben könnte; ich hatte damit gerechnet, ich hatte es beabsichtigt. Und natürlich hatte ich es nicht getan, weil ich die Beleidigung an meiner Professorin rächen wollte. Auch nicht, wie ich mir unmittelbar danach zusammenbastelte, weil ich fürchtete, der Mann sei in geheimdienstlicher Mission mir beigestellt worden, um mich zu vernichten. Ich war in eine Situation geraten, in der ich mich für oder gegen etwas Außergewöhnliches entscheiden konnte, und ich hatte mich für das Außergewöhnliche entschieden. Und nun, da ich erfahren hatte, daß Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin lebte, war mir, als wäre in Wahrheit ich es, der von den Toten auferstanden war. Ich fühlte mich über alles hinausgehoben. In diesem Zustand befand ich mich, als Abe und ich, aus Kinnelon zurück, am Broadway ein paar Biere tranken. Er plapperte und plapperte, erzählte von seinem Freund, auf den er zugunsten von dessen Familie verzichtet hatte, lauter Zeug, das mir wie Gerümpel vorkam, das sich einer um den Hals hängt. Abe kam mir wie ein spießiger Buchhalter vor. Du willst mich verführen, dachte ich. Du? Dann tu es doch! Jawohl, ich dachte: Für einen Einstieg in eine solche Erfahrung ist dieses weiche Herz genau richtig, da werde ich weich landen, falls es mich hinhauen sollte. Ich weiß, das hat er nicht verdient. Er hat sich nicht ausgekannt bei mir, der Clown. Ist es ein Wunder? Hat sich Theorien zurechtgelegt. Dieser Psychologe! Ich habe mich ihm gegenüber verhalten wie ein Schwein. Ich habe ihn mir angesehen, wie er sich als großer Verführer vorgekommen ist. Verführer und Pädagoge in einem. Ich Alkibiades, er Sokrates. Es würde mich tatsächlich interessieren, was Abe dir über mich erzählt hat. Erzähl’s mir nicht, kein Wort! Schreib’s auf! Abe war ein tratschsüchtiges Waschweib, dem Sokrates nicht unähnlich, nur daß er besser ausgesehen hat als der. Schreib’s genauso tratschsüchtig auf, wie er es dir erzählt hat! Er wird kein Detail ausgelassen haben, nehme ich an. Das war sein größter Fehler, sein Tratschmaul. Es war aber auch sein einziger Fehler. Und der genügte, um diesen heiligen Narren einsam werden zu lassen, stell dir vor! Ich sage: Wenigstens hatte er diesen Fehler. Mein Bedarf an Heiligen ist nämlich gedeckt. Mehr als eine Begegnung mit einem Heiligen pro Leben wäre wahrscheinlich auch gar nicht gesund, was meinst du? Der liebe Gott, falls es ihn gibt, hat mich mit einem pragmatischen Mißtrauen gegenüber allem Transzendenten ausgestattet. Recht hat er gehabt. Warum hast du mir eigentlich nie gesagt, daß Abe dir alles erzählt hat?«