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«Also, mein lieber Ribbentrop«, zitierte Mr. Sidney Alderman, der Vertreter der Anklage, aus dem Stenogramm,»kommen Sie so bald als möglich, ich freue mich schon auf Ihr Kommen! Das Wetter ist prachtvoll hier, blauer Himmel. Ich sitze hier, in Decken gehüllt, auf meinem Balkon in der frischen Luft und trinke meinen Kaffee, und die Vögel zwitschern, und durch das Radio hört man ab und zu von Wien die Stimmung …«

Göring brüllte vor Lachen, und Ribbentrop, der ein paar Köpfe weiter auf der Anklagebank saß, stimmte heftig nickend in das Lachen ein. Und Heß, ehemals der Stellvertreter des Führers, der bisher nur einen einzigen Satz von sich gegeben hatte, nämlich» I can’t remember«, fing ebenfalls zu lachen an, ein hohes Keckern, in Paketen ausgestoßen, dazwischen pfeifendes Luftholen. Sein kalkiges Kittgesicht zitterte, die Brauen, die wie dunkle Balken waren, hoben und senkten sich. Alderman mußte immer wieder neu ansetzen. Lordrichter Lawrence ermahnte die Angeklagten zur Ruhe. Aber das Lachen war wie Feuer, es sprang von Heß über auf Schirach, auf Saukel, Papen, Kaltenbrunner, Neurath, Frank, Rosenberg und die anderen und auch auf Jodl, Keitel, Dönitz und Raeder in ihren nackten Uniformen, von denen alle Rangabzeichen abgetrennt waren. Und nun lachten alle. Die Männer lachten wie Buben nach einem langen Vormittag in der letzten Schulstunde, wenn auf einmal jedes Wort, das der Lehrer sagt, zu einem Witz wird, über den man sich ausschütten möchte. Als Alderman zum drittenmal ansetzte, um die Passage mit den zwitschernden Vögeln vorzulesen, wurde er selbst vom Lachen erfaßt. Erst stolperte er nur über ein Wort, schließlich konnte er nicht mehr weiter, er versuchte, sich zu beherrschen, wollte den Lachkrampf durch Konzentration zur Entspannung bringen. Er preßte die Lippen aufeinander, aber das ging nicht gut. Er prustete aus der Nase, was ja noch viel komischer wirkt, als frei aus dem Mund heraus zu lachen, und nun sprang das Lachen auf die anderen Vertreter der Anklage über und auf die Verteidiger und auf die Wachesoldaten mit ihren weißen Helmen, Schlagstöcken und Pistolentaschen und zuletzt auf die Richter. Göring riß sich die Kopfhörer herunter, hob die Arme Mr. Alderman entgegen, es sah aus, als wollte er ihn umarmen, und wandte sich schließlich der Angeklagtenbank zu, dirigierte mit den Zeigefingern das Gelächter, als wären die da eine Blaskapelle, die einen Marsch spielte. Auch Abraham lachte; aber Carl lachte nicht.

Lordrichter Lawrence unterbrach auf Antrag seines sowjetischen Kollegen Generalmajor Nikitschenko die Sitzung. Die Angeklagten durften ihren Platz nicht verlassen, das Gericht zog sich zurück.

Carl beobachtete die Angeklagten, und wider Willen habe er Mitleid für diese Männer empfunden, wie sie sich auf die Schenkel schlugen und einander in die Arme fielen, mit Fingern aufeinander deuteten und sich im Falsett ihre Namen zuriefen, wie sie mit ihren Fäusten auf die Pulte trommelten und sich glückliche Tränen aus den Augen wischten. Das Lachen brachte etwas zustande, was unmöglich war: Es schaffte Gleichheit — wenigstens für einige Minuten. Es ließ den Trug entstehen, daß in diesem Raum Gleichheit herrschte: Sie waren alle gleich, sie waren aus Fleisch und Knochen, trugen Kleidung und verdauten, sie atmeten dieselbe Luft, und sie lachten über dasselbe. Hier saßen Angeklagte und Ankläger, Richter, Verteidiger, Wachsoldaten — das Lachen machte sie gleich.

Es gibt Fotos von dieser Szene. Die Presse hatte die Erlaubnis, jederzeit zu fotografieren; damit die Blitzlichter den Ablauf der Verhandlung nicht störten, war der Raum ständig mit Scheinwerfern ausgeleuchtet (weswegen es bisweilen unerträglich heiß im Gerichtssaal war). Abe sah sich einige dieser Fotos Tage später an. In die richtige zeitliche Folge gebracht, dokumentierten sie sehr gut das Entstehen dieser gespenstischen Szene. Auf dem ersten Bild lachte nur Göring. Auf dem zweiten lachten bereits Heß, Kaltenbrunner, Ribbentrop und Schirach. Auf den nächsten Bildern lachten alle Angeklagten und auch schon einige der Verteidiger, die in vier langen Bänken vor ihren Klienten saßen. Auf den folgenden Bildern lachten alle: die Soldaten unter ihren weißen Helmen hinten an der Wand, die Stenographen, die Gerichtsdiener, die Ankläger — Franzosen, Sowjets, Amerikaner und Briten —, die Dolmetscher und Dolmetscherinnen hinter ihren Glasscheiben; selbst der sonst so gravitätische britische Lordrichter Geoffrey Lawrence lachte mit weit aufgerissenem dunklem Mund. Ebenso Francis Biddle, sein amerikanischer Kollege, auf dessen hoher Stirn das Licht der Scheinwerfer reflektierte wie ein Funke des Glücks. Professor Henri Donnedieu de Vabres, der Frankreich auf dem Richterstuhl vertrat und immer auf kühle Distanz bedacht war, lachte mit flehentlich erhobenen Händen. Der amerikanische Ankläger Sidney Alderman — Auslöser der Szene — wischte sich die Augen, als wäre er betrunken und jemand hätte ihm einen unanständigen Witz erzählt. — Auf allen Bildern waren auch Abe und Carl zu sehen. Abe sah sich selbst lachen und sah Carclass="underline" ernst.»Als wäre ihm«, so formulierte es Abe vor mir,»als letztem aufgetragen, an allem zu leiden. «Mit beiden Händen hielt er seinen Schreibblock fest. Weil hier jeder lachte, weil das Lachen der Normalzustand in dieser festgehaltenen Welt war, wirkte er komisch, und in der Serie der Bilder wirkte er noch komischer. Ein Clown. Wie ein in die Länge gezogener, blonder Buster Keaton. — Und dann habe er noch einen entdeckt, der nicht lachte, erzählte Abe, nämlich Arthur Seyß-Inquart. Sein Blick war — so schien es jedenfalls auf einem der Fotos — auf Carl gerichtet. Er beobachtete ihn. Auf diesem Foto lachte er nicht mehr. Auf dem Bild, das vor diesem aufgenommen worden war, lachte Seyß-Inquart noch, aber schon nicht mehr so ausgelassen wie auf dem Bild vor diesem Bild — schon hatte er den Kopf gewendet, es war, als bemerkte er diesen ihm fremden Mann gerade in dem Moment, als der Fotograf auf den Auslöser drückte.

Die Sitzungsunterbrechung dauerte nicht länger als eine Viertelstunde. Richter, Ankläger und Verteidiger kamen in den Saal zurück, die Verhandlung wurde fortgesetzt. Aber sie wurde nicht an dem Punkt fortgesetzt, an dem sie unterbrochen worden war.

«Hoher Gerichtshof!«sagte Mr. Alderman.»Wir sollten nun logischerweise mit der Geschichte der Tschechoslowakei fortfahren. Aber wir müssen unsere Pläne ändern und von der streng logischen Reihenfolge abweichen. Jetzt ist vorgesehen, Ihnen einen Film zu zeigen.«

Mr. Dodd, einer der beiden amerikanischen Hauptankläger, meldete sich zu Wort.»Hoher Gerichtshof! Die Anklagebehörde für die Vereinigten Staaten wird nun mit der Erlaubnis des Gerichtshofs einen Originalfilm über die Konzentrationslager vorführen.«

Carl wußte, daß die Nazis Konzentrationslager errichtet hatten; er wußte nicht, wie viele es waren, und er wußte auch nicht, was dort wirklich geschehen war. Abe wußte mehr; er hatte zum Beispiel Statistiken gelesen, die dem Massenmord die Form von Zahlen gaben. Über nichts wurde in den Cafeterias, den Pressezentren und in den Gängen des Gerichtspalastes heftiger diskutiert und spekuliert als über die Tötungsfabriken der Nazis; wer das Äußerste vermutete und gar noch seine Vorstellungen davon ausbreitete, galt als Zyniker. Nach dieser Vorführung nicht mehr. Der Film war zusammengeschnitten aus Material, das amerikanische Soldaten bei der Befreiung verschiedener Konzentrationslager gedreht hatten; die schrecklichsten Teile aber stammten aus dem Privatbesitz hoher Nazifunktionäre, die treue Untergebene gefunden hatten, die für ihre Herrn die Kamera bedienten. Carl blickte von der Leinwand zu den Gesichtern der Angeklagten, zu der weißen Fläche seines Schreibblocks. Ribbentrop habe die Augen zugedrückt und sich von der Leinwand weggedreht, als die Halden von Schuhen, Kleidern, Prothesen, Brillen, Kinderpuppen und Haaren gezeigt wurden; Hans Frank, ehemals Hitlers Anwalt, später Generalgouverneur der besetzten polnischen Gebiete, im Gefängnis fromm geworden, habe die Schultern hängenlassen, wie wenn ihm der Herr Lehrer eine Schwindelei nachgewiesen hätte; Julius Streicher, der Hauptschriftleiter des Stürmer, blickte gelangweilt zur Decke, als auf der Leinwand die Türen zu den Gaskammern geöffnet wurden und man die Toten sehen konnte, die wie Basaltsäulen aufrecht aneinandergepreßt standen; Göring nahm den Kopfhörer ab, gähnte bei geschlossenem Mund, die Caterpillars, an deren Steuer vermummte amerikanische Soldaten saßen, schoben gerade Hunderte Leichen zusammen; Alfred Rosenberg zappelte auf seinem Sitz herum und sah immer wieder nach den anderen, um seine Miene auf die ihren einzustellen. Arthur Seyß-Inquart blickte geradeaus, an der Leinwand vorbei. Seine Augen hinter den starken Gläsern waren ohne Ausdruck.