Nach dem Film war der Gerichtstag beendet.
Am Abend besuchten Abe und Carl den Gefangenentrakt. Ihn interessiere nur Seyß-Inquart, sagte Carl.
«Ich muß aber mit jedem sprechen, das ist meine Aufgabe. Kapierst du das nicht?«zischte Abe auf deutsch.»Besonders nach so einem Tag muß ich das tun. Und du bist mein Assistent, verdammt noch mal! Du mußt mitschreiben.«
Sie wurden von vier Soldaten begleitet, einem Amerikaner, einem Briten, einem Franzosen und einem Russen. Jeder Posten hier schien vierfach besetzt zu sein. Dementsprechend viele Soldaten standen in den Gängen herum.
«Geh du zu den anderen und laß mich allein mit ihm!«flüsterte Carl zurück. Abe hatte ihn gewarnt, von ihrem französischen Begleiter wisse er, daß er leidlich Deutsch verstehe.
Abe war sehr aufgeregt.»Seyß-Inquart wird es nicht zulassen.«
«Fragen wir ihn, ob er etwas dagegen hat.«
Seyß-Inquart hatte nichts dagegen.
Als er, erzählte Carl, den britischen und den russischen Soldaten im Rücken, in der schmalen Zelle dem Gefangenen gegenübersaß, sei ihm aber nicht eine Frage eingefallen, von der er sich eine Antwort von Belang erwartete. Seyß-Inquart habe nach einer Weile gesagt, er werte es als kein gutes Zeichen, daß am Ende dieses Tages keine Frage an ihn gestellt werde. Nun sei ihm, sagte Carl, erst recht nichts eingefallen, und er habe es sogar aufgegeben, über eine Frage nachzudenken. Er sei einfach dagesessen und habe gewartet. Seyß-Inquart sagte, so etwas wie am Nachmittag gehe an die Nieren, aber er halte durch, es wäre allerdings ein gewisser Trost, wenn Fragen gestellt würden. Aber Carl fiel eben keine Frage ein. In der Zelle roch es nach Mottenkugeln und nach Süßigkeiten. Der Mann, der für den Tod von Edith Stein verantwortlich war, saß ihm gegenüber, die Handflächen auf dem Tisch, als wäre ihm das befohlen worden. Er trug amerikanische Zivilkleidung, grauer Anzug mit feinen Streifen. Gürtel und Krawatte wurden ihm abgenommen, wenn er aus dem Gerichtssaal in seine Zelle zurückgeführt wurde. Es wäre ihm freigestanden, in seiner Uniform vor Gericht zu erscheinen, das hatte er abgelehnt. Die Augen hinter den dicken Gläsern wirkten basedowsch. Die Haare hatte er sich an Schläfen und Hinterkopf scheren lassen. Der Angeklagte mit dem höchsten IQ.
Als die Zellentür in Carls Rücken aufgesperrt wurde, weil Dr. Abraham Fields seinen Assistenten abholen wollte, sagte der Gefangene doch noch etwas. Der Assistent schrieb mit:
«Ein Sonderfall also. Ein Präzedenzfall also. Etwas, das es vorher nicht gegeben hat. Something that has not existed before. Das nun meinen Namen trägt. Morgen kann einer sagen: Ich bin so, wie Dr. Arthur Seyß-Inquart einer gewesen ist.«
In der Nacht spazierten Abe und Carl wieder in die Felder hinaus. Sie hatten sich aus dem Häuschen geschlichen, ihr Wachsoldat sollte es nicht merken, sie wollten allein sein. Abe fragte Carl, wo er sich in den vergangenen Jahren herumgetrieben habe. Statt ihm zu antworten, erzählte Carl seinem Freund, daß er erst vor wenigen Wochen erfahren habe, daß seine Mutter bei einem amerikanischen Bombenangriff auf Wien gestorben sei.
«Ich kann mich nicht erinnern, wann und bei welcher Gelegenheit ich sie zum letztenmal gesehen habe.«
«Erzähl mir von ihr«, sagte Abe.
«Ich war ihm kein guter Freund gewesen«, keuchte Carl. Frau Mungenast hatte mir erklärt, daß die Schmerzen vom Rückgrat ausgingen und sich über den Rücken ausbreiteten und schließlich in die Beine und die Arme führen, so daß sich der Patient fühlte, als bestehe er nur aus Schmerz.»1952 bin ich nach New York gefahren, um mich mit Abe zu versöhnen, das heißt, ihn um Verzeihung zu bitten. Er hatte furchtbar viel zu tun, arbeitete in einem Wahlkomitee für die Demokraten, hatte eigentlich gar keine Zeit für mich, nahm sich aber alle Zeit. Hat er dir erzählt, daß wir nach Princeton gefahren sind? Und weiter nach Pennsylvania? Ich wollte in Bryn Mawr das Grab von Frau Professor Noether besuchen. Aber es gibt dort kein Grab. Sie hat sich einäschern lassen. Ihre Urne steht im Library Cloister des Colleges. Das wollte ich nicht — mich mit verschränkten Händen vor ein Regal stellen. Sind wir eben gleich wieder umgekehrt. Ein vergnüglicher Ausflug ist daraus geworden. Abe war auf seine Weise ein Genie. Er war ein Genie auf dem gleichen Gebiet, auf dem auch das Fräulein Stein eines war. In ihrem Fall sagt man nicht Genie, sondern Heilige. Genie und Heilige des Trostes.«
Auf dem unteren Weg durch den Wald war es, genau wie ich gedacht hatte, um so viel leichter, den Rollstuhl zu schieben. Der Weg war nur wenig verschneit, weil sich über ihm die Äste zu einem Dach vereinigten. Der Weg war hart, nicht ein Mal mußte ich den Rollstuhl kippen, und der Weg war glatt, so daß Carl nicht zusätzlich von Erschütterungen gequält wurde.
«Jetzt könnte ich beide brauchen«, wimmerte er,»die Heilige und das Genie.«
6
Im April 1976 hatte sich mein Vater das Leben genommen. Carl sah, daß ich des Trostes bedurfte, und da erinnerte er sich an den Meister des Trostes.
Er kenne einen Mann, sagte er, der sich mit Arthur Seyß-Inquart vor dessen Hinrichtung sehr ausführlich unterhalten und darüber ein äußerst gewissenhaftes, bis heute unveröffentlichtes Protokoll verfaßt hat; daraus eine Dissertation zu verfertigen sei mit Sicherheit nicht allzu aufwendig, würde mir aber, das garantiere er, zumindest in Österreich zu einem exzellenten akademischen Start verhelfen. Dieser Mann heiße Abraham Fields, und er lebe in New York.
«Besuch ihn!«sagte Carl.»Unterhalte dich mit ihm! Tu’s einfach! In einer Woche hast du alles beieinander. Du kommst zurück und schreibst es zusammen. Ein Klacks! Oder willst du nicht nach Amerika?«
Ich war aus Frankfurt gekommen, meine Mutter aus Vorarlberg. Carl und Margarida hatten uns nach der Beerdigung meines Vaters nach Innsbruck eingeladen. Obwohl meine Mutter damals noch ihre kratzbürstige Distanz zu Carl hielt, war deutlich, daß ihr die Fürsorge, vor allem Margaridas, guttat. Sie blieb mit einer Unterbrechung fast ein halbes Jahr in der Anichstraße.
«Soll ich?«fragte ich meine Mutter.
«Ich kann es nicht beurteilen«, sagte sie.»Ich war noch nie in Amerika. «Und das hieß: Ich will dort auch niemals hin. Amerika gab sie die Schuld. Dort hatte sich ihr Mann die Ideen geholt, die er zu Hause nicht umsetzen konnte, was der Grund für das Schreckliche gewesen war.
Ich geriet in solche Aufregung, daß ich Fieber bekam und in der Nacht aufwachte, weil ich glaubte, das Meer zu riechen — mitten in den Alpen! Mein erster Gedanke war nämlich gewesen: Ich bleibe drüben. Was gibt es hier noch für mich? Ich würde mir einen neuen Namen zulegen und mit niemandem, auch mit meiner Mutter nicht, auch mit Carl nicht, mit niemandem aus meiner alten Welt würde ich Kontakt halten. Ich stand auf und ging in die Küche. Der Föhn rüttelte an den Fensterläden, die Fernsehantennen draußen auf dem Dach surrten und pfiffen und sangen im Wind, und ich sah im ersten Morgenlicht, wie Laub, Staub und Zeitungen aus der Stadt in die Luft gewirbelt wurden. Ich trank aus dem Wasserhahn und rieb mir das Gesicht ab. Ich dachte: Carl weiß, daß ich drüben bleiben will, er wünscht es sich, er wünscht es sich für mich, und das erfüllte mich mit Genugtuung, denn was konnte es anderes heißen, als daß er mich hochschätzte. Ich liebte amerikanische Musik und amerikanische Literatur; wenn ich Woody Guthrie, Muddy Waters, John Lee Hooker, Velvet Underground, Bob Dylan, Neil Young hörte, war ich glücklich; wenn ich John Steinbeck, Jack Kerouac, William S. Burroughs, William Faulkner, Ernest Hemingway las, war ich glücklich. New York war vertrautes Gelände in meiner Einbildung, ich hatte es mir zusammengebaut aus den Erzählungen meines Vaters und aus dem Roman Manhattan Transfer von John Dos Passos, das lange mein Lieblingsbuch gewesen war. Die Gerüche in den Cafeterias von Greenwich Village oder in den Hallen der Grand Central Station, in den Toreinfahrten, den Hinterhöfen, Kohlenkellern, Eiskellern, auf den Piers und Brückenaufgängen, die schillernden Farben des ölverschmierten Pflasters nach einem Regen, der schaumige Dampf aus den U-Bahn-Schächten, die Gesichter der Menschen aller Länder, der rasende Wechsel der sozialen Welten von Straße zu Straße, von Avenue zu Avenue, Gier, Arbeit, Glück, Macht — das alles schien mir wirklicher als meine Erinnerungen an Wien, wo ich aufgewachsen war und bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr gewohnt hatte. Natürlich war mir klar, daß ich Dos Passos’ New York nicht vorfinden würde; daß Bud Korpenning, Jimmy Herf, Bob und Frances Hildebrand, Congo Jake, Ellen, Maisie und Ed nicht weniger als ich über die Skyline staunen würden, wenn sie heute mit mir von der Brooklyn Bridge nach Westen blickten; aber ich zweifelte nicht daran, daß der sound dieser Stadt, ihr Herzschlag, der gleiche sein würde wie der, den ich spürte, wenn ich dieses Buch las. — Auf einen exzellenten akademischen Start in Österreich legte ich hingegen absolut keinen Wert.