Die folgende Geschichte — eigentlich das Ende der vorangegangenen — hatte mir Margarida erzählt; dieser Teil gehörte nicht zum familiären Sagenschatz. Margarida war damals noch nicht in Wien gewesen, sie kannte die Geschichte also selbst nur aus den Erzählungen ihres Mannes.
Eines Abends sei Agnes nicht ins Café Museum gekommen. Die Spaziergänge mit ihm waren ihr vielleicht endlich doch zu langweilig geworden — befürchtete Carl. Vielleicht war er ja inzwischen als Ganzes zu einem langweiligen Menschen geworden. Die Kollegen an der Universität, die ihm, dem» Amerikaner«, anfänglich mit Mißtrauen begegnet waren, schienen ihn auf dem» amerikanischen Weg des Lebens «längst überholt zu haben; wenn er zu den Konferenzen kam, war ihm, obwohl er einer der Jüngsten in der Runde war, zumute, als stünde er kurz vor seiner Emeritierung. Die wortkargen Spaziergänge mit Agnes empfand er als eine Befreiung aus den Mißstimmungen und dem richtungslosen Leerlauf seiner Tage. Sie sah nicht besonders gut aus, sie hatte kein Geld und keine Ideen. Ein von der Realität ungedecktes und darum so herausfordernd wirkendes Selbstbewußtsein — das bewunderte er an ihr. — Er wartete eine Stunde, blätterte in den Zeitungen und bestellte sich ein Seidel Bier und ein Paar Sacherwürsteln mit Kren und Senf. Schon eine Minute nach sechs hatte er gewußt, daß sie nicht kommen würde.
Als er am Rudolfsplatz die Tür aufsperrte, legte sie die Hand auf seine Schulter. Sie hatte im Torschatten auf ihn gewartet. Es sei etwas geschehen, sagte sie und schlüpfte vor ihm ins Haus. Er bereitete Tee zu, und sie setzten sich in sein Arbeitszimmer. Sie blickte sich nicht um, fragte nicht.
«Ich habe mich geirrt«, sagte sie.
Ich fragte Margarida, was meine Mutter damit gemeint habe.
«Auch sie war drauf und dran, einen großen falschen Schritt zu tun«, antwortete Margarida.
Dieses Gespräch zwischen Margarida und mir fand irgendwann Mitte der siebziger Jahre statt, und das Thema waren die großen falschen Schritte gewesen. Ich war nach einem furchtbaren Streit mit Dagmar in der Nacht von Frankfurt nach Innsbruck geflohen, um bei Margarida und Carl Trost, Linderung und Rat zu holen.
«Agnes hatte sich eingebildet, sie habe sich in Carl verliebt«, sagte Margarida.»Das war alles.«
«Und Carl?«
Carl hatte sie unterbrochen, ehe sie weitersprechen konnte. Er wolle nichts davon hören, hatte er gesagt; er wünsche, daß sie ihren Tee trinke und unverzüglich gehe und daß sie kein Wort weiter von dieser Sache spreche; und er verbiete ihr, Georg davon auch nur ein Wort zu sagen.
Als sie gegangen war, habe er sich an den Schreibtisch gesetzt und an Margarida einen Brief geschrieben:
Margarida! Was ist mit uns? Was ist mit uns! Ich lebe in einem leeren Haus. Komm zu mir! Charly
«Und ich«, sagte Margarida,»ich hatte in Lissabon gesessen und auf genau so einen Brief gewartet. Nachdem ich ihn gelesen hatte, habe ich die Koffer gepackt und bin mit dem Zug nach Wien gefahren. Das dauerte damals drei Tage.«
Happy-End. — Meine Mutter verliebte sich in meinen Vater — wieder oder diesmal richtig. Und mein Vater verliebte sich in sie. Carl merkte es daran, daß sich sein Musikgeschmack — er drückte sich vorsichtig aus — erweiterte. Georg Lukasser nahm einen Cowboy-Song in das Programm seiner Combo auf, und er kündigte ihn auf der Bühne an mit:»Die nächste Nummer ist für Agnes: When I First Laid Eyes On You.«
Ein halbes Jahr später haben sie geheiratet, und dann bin ja auch ich bald auf die Welt gekommen.
5
Carl war enttäuscht, daß ich meinen Laptop nicht bei mir hatte. Ich hätte, so stellte er sich den Idealfall vor, an den Vormittagen und den Nachmittagen aufgeschrieben, was er mir an den Abenden zuvor erzählen würde. Das funktioniere nicht, sagte ich, ich könne erst mit der Niederschrift beginnen, wenn ich die ganze Geschichte kenne; außerdem entspreche so ein hohes Tempo nicht meiner Arbeitsweise. Das sah er ein. Widerwillig. Ich nehme an, er hätte gern das eine oder andere Kapitel gelesen, bevor ich zurück nach Wien gefahren wäre — weil er wohl damit rechnete, daß später dafür keine Zeit mehr sein würde. Noch bevor er mich angerufen hatte, hatte er von Frau Mungenast einen Stoß mit Schulheften aus der Stadt besorgen lassen. Ja, er war sich sicher gewesen, daß ich kommen, und ebenso sicher, daß ich ihm seinen Wunsch erfüllen würde, und er wollte, gestand er mir mit seinem charmantesten Lächeln, für jeden Fall ausgerüstet sein. Seit meiner frühesten Jugend verwende ich Schulhefte für Tagebuchaufzeichnungen, später für Notizen und Recherchen; er wußte das und hatte es nicht vergessen. (Sie habe, erzählte mir Frau Mungenast später, zweimal fahren müssen; die gewöhnlichen Schulhefte seien ihm zu häßlich gewesen. Er habe bei sämtlichen Papiergeschäften Innsbrucks angerufen; bei Bier & Biendl in der Leopoldstraße habe man ihm schließlich versichert, Hefte in schlichter Aufmachung zu führen, von denen allerdings eines so viel kostete wie zehn von den ordinären.) Und so saß ich bereits am Nachmittag — noch keine zwei Stunden nachdem ich in Lans angekommen war — neben seinem Lehnstuhl auf der Couch, hatte ein weiches Kissen unter meinem Hintern und ein Schreibheft auf den Knien, auf dessen Schildchen ich zu unser beider verlegenen Belustigung» C.J.C. 1«schrieb und doppelt unterstrich. Das war alles übertrieben, hatte etwas kindlich Aufgeregtes an sich; was von Carl ausging, mich aber rasch ansteckte. Er rührte mich — seine schnellen Atemstöße, seine unsteten Hände, beides nicht typisch für ihn. Wir verhielten uns wie zwei Zehnjährige, die Interview spielten —»erst bist du der Prominente, dann ich …«. Frau Mungenast hatte das Geschirr von draußen hereingetragen, hatte frischen Tee aufgebrüht und Brote mit Salami und Käse hergerichtet. Ich sah ihr Lächeln, und ich deutete es als ebenso spöttisch wie mütterlich.
«Warum hast du dich so lange Zeit nicht gemeldet?«fragte er.
Immer war er es gewesen, der angerufen hatte. Außer bei Katastrophen. Bei Katastrophen waren die Lukassers über die Straße zum Gemischtwaren Lammel gelaufen, als sie selbst noch keinen Anschluß besaßen.»Und als ein Jahr vergangen war«, versuchte ich es, der Situation entsprechend, mit kindlicher Ehrlichkeit,»fiel mir ein, daß es eigentlich ungehörig war vorauszusetzen, daß immer du derjenige sein mußt, der anruft. Aber nun war bereits zu viel Zeit vergangen.«
Frau Mungenast setzte sich zu uns. Carl schien nichts dagegen zu haben. Ich schloß daraus, daß unsere eigentliche Arbeit erst am Abend beginnen würde, wenn sie nach Hause gefahren war.
«Wenn ich ihm einen Gegenstand zuordnen müßte«, wandte ich mich an sie,»dann das Telefon. «Sie sah mich so mitfühlend an, als wüßte sie über meine Sorgen, Ängste und Paniken der vergangenen Wochen Bescheid — ein hysterisches Beichtbedürfnis drängte sich in meine Kehle, was ich aber durchgehen ließ, schließlich war mir erst vierundzwanzig Stunden zuvor versichert worden, ich sei» nach allem, was wir wissen können«, vom Krebs geheilt; und daß mein fünfundneunzigjähriger Freund sich anschickte, sein Leben im Rückblick zu einem Drama zu gestalten, das vielleicht Tage, vielleicht Wochen dauern und das ich nicht gerade in Stein meißeln, aber doch zu Papier bringen würde, war ja tatsächlich etwas Außergewöhnliches, das Gefühle von Erhabenheit in einem auslösen durfte.
«Telefoniere ich zu viel?«fragte er Frau Mungenast.
«Nein«, sagte sie, ohne den Blick von mir zu wenden.
«Das liegt daran«, sagte er,»daß bis auf den hier keiner von all jenen, die ich geliebt habe, mehr lebt.«
Ich erzählte die» berühmte «Geschichte — allerdings ohne in die Details zu gehen —, als wir beide einmal gut zwei Stunden lang miteinander telefoniert hatten, und zwar keine zehn Meter voneinander entfernt. Das war noch in der Wohnung in der Anichstraße unten in der Stadt gewesen, über zwanzig Jahre ist es her. Carl war in seinem Arbeitszimmer gesessen, ich war im Gästezimmer — in» Sebastians Zimmer«— im Bett gelegen, den Hörer zwischen Kopfkissen und Ohr geklemmt. Eine wahrhaft komische Geschichte, die ebenfalls in den Sagenschatz unserer Familie eingegangen war (mein Vater lebte damals bereits nicht mehr). Carl hatte mir geraten, bei Dagmar zu bleiben; aber es war ihm nicht möglich gewesen, ausführlich von Angesicht zu Angesicht mit mir über meine Not zu sprechen und mir Trost, Linderung und Rat zu spenden; also tat er es telefonisch. Er war überaus einfühlsam gewesen, und es war mir leichtgefallen, mein Herz in den Hörer auszuschütten und Tränen hinterherzuweinen; und auch ihm schien es keine Überwindung zu kosten, mir von seinem Leid und den erlittenen Demütigungen zu erzählen, um so meinem Leid und meinen Demütigungen ihre Einmaligkeit zu nehmen. Mein Schutzengel hatte mich nicht im Stich gelassen, er hatte seine Aufgabe erfüllt; aber eben auf seine Weise. Er sei, erzählte mir Margarida, bei Stockdunkelheit an seinem Schreibtisch gesessen, korrekt gekleidet, ohne seine Krawatte zu lockern. Am nächsten Tag hatte er mit keinem Wort auf unser nächtliches Telefonat Bezug genommen; Margarida war es gewesen, die diese Geschichte in der Familie berühmt gemacht hatte.