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Eines Nachts war mein Vater nach Hause gekommen, hatte mich aus dem Bett gehoben, in die Küche getragen — ich war bald dreizehn und nicht kleiner als er! — und hatte meiner Mutter verkündet:»So! Sie haben die Lassithi Dreams gehört. Konitz und Tristano sind schuld. Man ist begeistert. Sie legen ein Angebot auf den Tisch. Ich fahre hinüber und schau, ob es wahr ist. Und wenn das wahr ist, dann! Ich glaube, es ist soweit!«Amerika! — Amerika! — Die Arme auf dem Küchentisch verschränkt, Mutter, Vater, Sohn. Auswandern! Ein Traumwort. Amerika!» Auf meinem Ruder werden wir uns ein neues Leben aufbauen!«Dieser Satz gefiel ihm so gut, daß er ihn hundertmal durch unsere Wohnung brüllte. Das Ruder war seine Gitarre.»Scheißruder «oder» altes Ruder «oder» Hurenruder «oder» verdammtes Scheißhurenruder«. In seinem Hirn surrten die Maschinen einer Traumfabrik. Ein Ast des Kirschbaums wuchs so nahe an das Fenster meines Zimmers heran, daß ich die Nase in die Blüten stecken konnte. Als Sommer war, wartete ich auf Kirschen. Aber die Amseln holten sie, ehe sie reif waren. Er kaufte früh am Morgen eine große Tüte auf dem Markt und hängte Zwillinge und Drillinge an die Zweige, kitzelte mich wach und sagte, es habe sich» ein Naturwunder ereignet«, der Baum habe über Nacht Kirschen wachsen lassen,»extra für dich«, was sich damit beweisen lasse,»daß sie ausschließlich an dem Ast vor deinem Fenster wachsen«. Als er aus Amerika zurückkam, wurde über Auswandern nicht mehr gesprochen. Alles zerbrach, nahm einen logischen, natürlichen, furchtbaren Verlauf. Zerbrach an dem raffinierten Geschick meines Vaters, immer das Falsche zu tun. Wir zogen aus Wien fort. Mein Vater unterrichtete Musik an einem Gymnasium und fluchte auf die Schule, sie werde von Idioten geleitet und habe keinen anderen Zweck, als Idioten heranzuzüchten. Er legte seine Hand auf meinen Hinterkopf und drückte mich an seine Brust.»Schlechte Noten sind ein gutes Zeichen«, sagte er. Ich fühlte mich nicht getröstet. Er meinte nicht mich. Er meinte sich selbst. Ich hatte nie schlechte Noten. Der Boden unter seinen Füßen war endgültig eingebrochen. Es dauerte noch fast zehn Jahre, bis er darin versank, und es waren auch zufriedene Jahre darunter. Meine Mutter, die vorher vor den zu hohen Zielen ihres Mannes Angst gehabt hatte, hatte nun Angst, daß er diese Ziele aufgab. Über jeden Menschen, den wir kannten — Carl ausgenommen —, hatte mein Vater schon mindestens zehnmal gesagt, er bringe ihn oder sie um, und jedesmal hatte sich mein Magen verkrampft, weil ich dachte, was wird dann aus mir. Wir spielen vielleicht nicht in den glücklichen, eher wohl in den dunklen Augenblicken der anderen eine Rolle. Als er in Amerika war, sei ich es gewesen, der ihm am meisten gefehlt habe. Meine Mutter erzählte mir auf unserem Spaziergang nach seinem Tod, er habe sich einmal bei ihr über mich beklagt, daß er nicht herausfinden könne, was ich wolle, daß er manchmal Zweifel habe, ob ich überhaupt etwas wolle. Entweder ich trage meine Wünsche zu spitz oder zu trocken vor oder zu unvermittelt oder zu obenhin — Evelyn sagt das. Wenn er etwas wollte, brüllte er. Thelonius Monk hatte er in New York kennengelernt und Gerry Mulligan und auch Barney Kessel, vor dem er sich so gefürchtet hatte und den er im Chelsea Hotel zu einem Duell traf, das eindeutig zu seinen Gunsten ausging (was sich überprüfen läßt, die Session wurde nämlich auf Tonband aufgenommen und erschien irgendwann in den siebziger Jahren bei dem winzigen New Yorker Jazzlabel Kuykendall Records auf Platte). Er arbeitete im Riverside-Studio, dem damals modernsten Studio der Welt. Wes Montgomery spielte dort zusammen mit dem Wynton-Kelly-Trio einige Nummern ein. Wes sei ein vornehmer feiner Hund, erzählte er, er habe ihm seine Daumentechnik erklärt.»Immens fulminant, aber letztendlich zu umständlich. «Eines Tages kam Chet Baker ins Studio, er stellte gerade eine neue Band zusammen, und er lud meinen Vater ein, ihm vorzuspielen. Mein Vater stach alle Konkurrenten aus, er bekam das Engagement und zog fünf Monate lang durch die Jazzclubs der Ostküste und der Westküste. Und so kündigte ihn Baker dem Publikum an:»George Lukasser, der neue Charlie Christian!«Mein Vater brachte einen Sportsack voll Bänder aus Amerika mit. Ich habe sie mir alle auf CD brennen lassen. Die schönste Aufnahme ist die, auf der er und Chet Baker Cole Porters Night and Day im Duett singen — die erste Strophe a cappella, in der zweiten Strophe die Melodie einstimmig auf Gitarre und Trompete spielen, dabei auch in den Verästelungen ihrer Improvisationen exakt beieinanderbleiben und erst ab der Hälfte der letzten Strophe, wenn Baß, Piano und Beserlschlagzeug einsetzen, in zwei verschiedene Stimmführungen auseinandergehen.

7

An meinem ersten Tag führte mich Abraham in einen kleinen Park direkt am East River. Eigentlich war es gar kein Park, sondern ein einzelner Ahornbaum mit einer weiten Krone, um den herum ein paar Bänke aufgestellt waren. Die Bronzefigur eines Wildschweins stand dort, lebensgroß, übersät mit in Erz gegossenen Fingerabdrücken des Künstlers. Der Zugang zu dieser Oase sah aus wie ein Privatweg, und während der zwei Stunden, die wir dort verbrachten, betrat kein anderer Besucher den Platz. Abraham stieg gleich in medias res, erzählte, daß er die Angeklagten gebeten habe, eine eindrückliche Kindheitserinnerung in eine kleine Erzählung zu fassen; nicht die Wahrheit sollten sie niederschreiben, sondern einen literarischen Text verfassen. Er habe freie Hand gehabt zu experimentieren, sagte er, und in den Diskussionen, die er noch vor Nürnberg mit Kollegen an der Columbia geführt habe, habe sich in ihm die Überzeugung verfestigt, daß in besonders schweren Fällen der Wahrheit nicht direkt ins Auge geblickt werden könne; daß ein Frank, ein Kaltenbrunner und ein Seyß-Inquart der Wahrheit näherkommen, wenn man von ihnen fiction statt facts verlangte. Er, Abe, habe dieses dialektische Wechselspiel von Verdrängung und Aufdeckung und deren synthetische Aufhebung in der Fiktion als Metapher für die Wahrheit den Perseus-Komplex genannt, in Anspielung auf den antiken Helden, der der schrecklichen Medusa den Kopf abgeschlagen, sie dabei aber über seinen spiegelglatten Schild angeschaut habe, weil ihn der direkte Blick versteinert hätte. Er habe auch einen Aufsatz in einer sehr renommierten Zeitschrift für Psychologie darüber geschrieben, der Begriff habe sich aber nicht durchgesetzt, Abe Fields sei eben nicht Sigmund Freud.

Keine fünfzig Meter nördlich des Parks setzte die Queensboro Bridge zum Sprung über den East River an. Der Anblick der Eisenkonstruktion, die sich streng und verspielt zugleich, halb Tortenverzierung, halb Kathedrale, über dem Ufer erhob und im Licht des späten Nachmittags all ihre grazilen Einzelheiten preisgab, überwältigte mich, und Abraham bemerkte es:»Hat es diese wunderschöne Brücke verdient, daß Ihre Erinnerungen an sie von diesen Nazigeschichten überschatten werden?«

«Nein«, sagte ich.

«Hat es die Stadt verdient?«

«Nein«, sagte ich.

«Also reden wir nicht weiter darüber! Alles, was Sie für Ihre verdammte Doktorarbeit brauchen, finden Sie in Amsterdam. Was geht Sie eigentlich das Leben dieses Mannes an?«

Statt dessen erzählten wir uns gegenseitig aus unserem Leben. Wir schlenderten durch den Central Park, und ich erzählte von meinem Vater. Daß ich so ein schlechtes Gewissen hätte, weil ich nie aufmerksam gewesen sei, wenn er mir seine Musik erklären wollte; weil ich immer ungeduldig gewesen war und die Augen verrollt hatte; daß ich immer gewußt hatte, daß ihm kein Lob mehr bedeutete als meines, und trotzdem hatte ich es nicht über mich gebracht.

Abraham lud mich in seine Wohnung ein, hörte mir zu, kochte für mich, legte eine Schallplatte auf. Er habe zu seiner eigenen Überraschung die Oper für sich entdeckt, sagte er. Er sei es gewesen, der Jake von der Oper und der Klassik abgebracht habe, und nun habe er Oper und Klassik für sich entdeckt. Zur Zeit höre er ununterbrochen Elektra von Richard Strauss, allerdings müsse er dabei allein sein, später einmal könne er sich diese Musik vielleicht zusammen mit jemand anderem anhören, zur Zeit sei er noch nicht soweit, noch habe er die physische Seite von Begeisterung und Erschütterung nicht im Griff und wolle niemandem zumuten, ihm dabei zuzuschauen. Er schaltete alle Lichter aus bis auf eine Stehlampe, und dann erzählte er mir von dem Abend, als er Carl verführt hatte. Ebendiese Stehlampe habe er aus seinem Schlafzimmer in die Küche getragen, wo Carl auf dem Sofa gelegen habe. Sie gebe ein weiches, facettenreich mit den Schatten spielendes Licht. Er habe sich auf die Kante des Sofas gesetzt und versucht, seinen Körper in Position zu bringen, so daß Carl vor allem sein Profil zu sehen bekäme. Er habe einen beeindruckenden Römerkopf, das wisse er, das sei ihm Dutzende Male bescheinigt worden, der allerdings in einem — wie er sich nüchtern eingestehen müsse — unschönen Kontrast zu der beinahe mädchenhaften Zartheit seines Körpers stehe; was andererseits, und auch das sei ihm von verschiedenen Seiten versichert worden, Charakter mache. Interessant sei doch nur das Antagonistische: treu, lauter, aufrichtig und all das auf eine bedingungslos grausame Art: ein Mann zur Freundschaft geschaffen, auch über die Liebe hinaus, wo Treue sich zu einer barbarischen Tugend wandeln könne. Er habe zu Carl gesagt: Nennt dich irgend jemand Jake? Ist es dir recht, wenn ich Jake zu dir sage? Ich denke, es ist gut, wenn ich Jake zu dir sage. Vielleicht schämst du dich ja hinterher. Dann ist es gut, wenn du so tun kannst, als wärst du ein anderer gewesen.