Als ich das Café wieder betrat, sah ich David, weit über den Marmortisch gebeugt, mit Robert sprechen. Er hatte seinen Mantel ausgezogen und auf meinen Sessel gelegt. Seine Arme schimmerten, so weiß waren sie. Ich blieb beim Zeitungstisch gleich neben dem Eingang stehen und beobachtete die beiden. Wenn vorhin Robert geredet und David ihn nur mit kleinen Bemerkungen unterbrochen hatte, so war es nun Robert, der zuhörte. Was erzählte ihm David? Ihre Gesichter waren nahe beieinander, und ihr Ausdruck war sehr ernst. David fuhr mit den Händen aus, fuchtelte vor Roberts Gesicht herum, trommelte mit den Fingerkuppen auf den Tisch, jetzt schüttelte Robert den Kopf, David vollführte noch einmal eine ähnliche Parade von Gesten, schließlich schüttelten beide den Kopf und lehnten sich in ihren Sesseln zurück. David hatte eine unglaubliche Geschichte erzählt, so muß es gewesen sein, und sie gleich noch einmal erzählt, wie man es tut, wenn eine Geschichte wirklich unglaublich ist. Er hob seinen Mantel auf, griff in die Taschen, bot Robert eine der Zigarette an, die ich in die Schachtel gesteckt hatte, Robert lehnte ab. Immer wieder strich sich David die Haare zurück, immer wieder fielen sie ihm in Korkenzieherlocken über Wangen und Stirn. Wie seine Mutter, wenn sie sich bei einem Thema sehr engagierte, machte er den Rücken krumm. Nun schien ihm Robert eine Frage zu stellen. David hob die Arme und holte tief Atem, ehe er antwortete. Wieder nickte Robert kaum merklich, während David sprach. Einmal lachte er auf, wollte etwas sagen, ließ ihn aber weiterreden. David sprach nun, ohne zu gestikulieren. Die Arme drückte er an sich, die Schultern zog er hoch, die Hände klemmte er zwischen die Schenkel, dabei wippte er, als trüge er einen Rap-Song vor. Die Stirn im Profil hatte die gleiche Wölbung wie Dagmars Stirn, klug, aufmerksam, vertrauensselig, ein wenig verwöhnt, ein wenig besserwisserisch, hingabebereit und rührend. Robert winkte Fräulein Anneliese, unterbrach David, fragte ihn wahrscheinlich, ob er noch etwas wünsche, David schüttelte den Kopf, etwas unwillig, wie mir schien, wahrscheinlich, weil ihn Robert unterbrochen hatte, Robert bestellte, wahrscheinlich einen großen Braunen, nach einer Pause fuhr David fort. Nun aber, ohne mit dem Körper seinen Worten einen Rhythmus zu geben. Robert sagte ein Wort, und David brach in das heiterste und harmloseste Lachen aus; dabei nahm sein Gesicht einen kindlichen Ausdruck an, der ihm ungemein gut stand — soweit ich das von der Seite beurteilen konnte.
Ich ging wieder hinaus, überquerte den Platz vor dem Café, spazierte die Gumpendorferstraße hinauf. Sah mir neben Lichterloh das Schaufenster des Schneidergeschäfts an, in dem ich mir vor ein paar Jahren eine Jacke anfertigen hatte lassen, einen Lumberjack aus tiefgrünem Kord mit Lederteilen an der Schultern und den Ellbogen, ebenfalls grün, und zwei Brusttaschen, die mit Klappen wie geschwungene Klammern versehen waren. Als Zwölfjähriger, draußen im 15. Bezirk in der Penzingerstraße, hatte ich einen Lumberjack besessen, bei weitem nicht so einen noblen wie mein grüner, er war gebraucht gewesen, eine Freundin meiner Mutter hatte ihn mitgebracht, ihr Sohn sei in die Höhe geschossen, so hatte sie ihr Geschenk begründet, und ich hatte mir darunter einen kriegerischen Zwischenfall vorgestellt, und irgendwann war der Lumberjack verlorengegangen, worüber ich verzweifelt gewesen war, wirklich verzweifelt. Ein Amselweibchen landete zwei Schritte vor mir auf dem Gehsteig. Es senkte seinen Kopf, das hatte, so absurd der Vergleich war, etwas Wölfisches. Die Federn des Schwanzes schleiften am Boden, der Schnabel war weit geöffnet, aber kein Laut kam heraus. Ein Paar auf Rollerblades schwang die Straße herunter, die beiden hielten sich an den Händen, sie hatte auf der Brust ein weißes Blinklicht, fuhren an mir vorbei, er auf dem Rücken ein rotes. Ich ging weiter, beim Autohaus Denzel vorbei und an dem Friseurladen, der aussieht wie eine italienische Eisdiele, an der Reinigung vorbei bis zu dem Antiquariat, in dessen verstaubter Auslage seit zwanzig Jahren, wahrscheinlich schon länger, die große Rommel-Ausgabe der Werke von Johann Nepomuk Nestroy steht. Ich habe mich irgendwann einmal nach ihrem Preis erkundigt, da hatte der Besitzer gesagt, es tue ihm leid, sie sei gerade verkauft worden, der Kunde hole sie in den nächsten Tagen ab. Über dem Nestroy stapelten sich eine Biographie über Hermann Göring, eine im Schnitt gebräunte Taschenbuchausgabe der Tagebücher von Joseph Goebbels, die Kriegserinnerungen eines ostmärkischen Oberstudienrats, Brehms Tierleben, der große Herder aus den dreißiger Jahren, die Edda, Impressionen aus den deutschen Kolonien in Ostafrika und Südwestafrika sowie aus Neuguinea und dem chinesischen Kiautschou. Außerdem eine unter der Staubschicht gerade noch als blau erkennbare Ausgabe der Werke von Fritz Reuther, acht Bände über Österreich-Ungarns Außenpolitik von 1908 bis 1914, Lloyd Georges Anteil am Weltkrieg in drei Bänden und Thomas Edward Lawrence’s Die sieben Säulen der Weisheit. Mir schauderte bei der Vorstellung, daß hier auch eine vergriffene Ausgabe einer Biographie über Arthur Seyß-Inquart, verfaßt von einem gewissen Sebastian Lukasser, stehen könnte. Ich betrat den Laden. Hinter dem brusthohen Tisch in der Mitte, den Bücher wie eine Festungsmauer umrundeten, thronte der Besitzer. Nicht anders als bei meinem letzten Besuch vor zehn Jahren trug er einen grauen Arbeitskittel, und wie damals blickte er mir ohne jedes Interesse direkt in die Augen.»Was kostet die Rommel-Ausgabe?«fragte ich.»Die ist zu teuer«, sagte er.»Danke«, sagte ich und ging. Ich spazierte weiter, zum Apollokino hinauf, wo auf der Plakatwand unter dem lachsfarbenen Türmchen Bruce Willis im Profil zu sehen war, er war The Unbreakable, der Mann, dessen Knochen auch zwischen verkeilten Eisenbahnwaggons nicht brechen (der Mann,»der nicht blutet, wenn man ihn sticht«). Gegenüber, auf der Steintreppe vor dem Haus des Meeres, das in dem gigantischen Betongrabstein eines Flak-Turms untergebracht ist, saßen Ostertouristen und ließen sich von ihrem Führer das weitere Vorgehen erklären. Weit oben über den Balustraden, auf denen am Ende des WK 2 die Kindersoldaten hinter ihren Kanonen gesessen und auf die amerikanischen Flugzeuge geschossen hatten, hatte ein Künstler in dreimannshohen Lettern geschrieben: SMASHED TO PIECES (IN THE STILL OF THE NIGHT) In diesem Moment drehten sich die Touristen um und blickten hinauf zu der Inschrift. Der Führer nützte die Gelegenheit, sich eine Zigarette anzustecken und sich die Hände am Hosenboden abzuwischen.
Nach einer halben Stunde trat ich wieder zu David und Robert an den Tisch. Sie fragten mich nicht, wo ich so lange geblieben war.
4
Nachmittags.
«Also dann«, sagte David, und ich sagte:»Bitte, bleib doch noch!«
Für einen Augenaufschlag, so bildete ich mir ein, war Rührung in seinem Blick; er stellte den Fuß auf den Rucksack und schaute zu Boden. Seine Rührung hatte dem» Bitte «gegolten; wenn ich ihn aber noch einmal bitte, dachte ich, wird er gehen, weil er sich aufgefordert sieht, Standfestigkeit zu beweisen. Es fiel mir schwer, es nicht zu tun.