Der Grund, warum Lord Bullhaven den Premierminister am selben Tag wie Rick und die Geister aufgesucht hatte, war folgender: Ein Land mit einer verbrecherischen Regierung hatte beschlossen, einen Teil seiner Einwohner zu vertreiben, weil sie einer anderen Rasse angehörten. Der Premierminister hatte angekündigt, diesen Menschen in England Asyl zu gewähren, weil sie nicht wußten, wo sie sonst hinsollten. Das ärgerte Lord Bullhaven so, daß er nach London fuhr, um sich zu beschweren. Der einzige Grund, warum er diese Menschen nicht in England haben wollte, war der, daß sie anders waren.
Als er jedoch Ricks Geister sah, vergaß er, weshalb er gekommen war. Chinesen, Iren, Waliser oder Juden mochten noch so anders sein - sie waren nichts im Vergleich zum Schwebenden Kilt, der Hexe, der Wehklagenden Winifred oder sogar zu Humphrey. Das waren widerliche, gruselige, ungewöhnliche Wesen. Sie konnte man nicht mit einem Pflanzenschutzmittel vernichten, man konnte sie nicht in Insektenfallen fangen oder einfach erschießen. Deshalb hatte Lord Bullhaven beschlossen, sie nach Insleyfarne zu locken und dann mittels Exorzismus zu beseitigen.
Exorzismus gibt es schon sehr, sehr lange. Man kann ihn anwenden, um Geister aus einem Spukhaus zu vertreiben oder einen bösen Geist, der in einem Menschen gefahren ist, auszutreiben. Es ist ein höchst mühsamer und folgenreicher Zauber, den man nur anwenden sollte, wenn man genau weiß, was man tut.
Denn Geister, die ausgetrieben worden sind, erscheinen nie wieder. Sie sind keine Geister mehr - sie sind überhaupt nichts mehr. Man hat sie umgebracht.
Um Geister auszutreiben, gibt es alle möglichen Mittel und Methoden. Sehr wirksam ist es, wenn Geistliche im Kreis sitzen und immer wieder besondere Beschwörungsformeln wiederholen. Vogelbeerzweige werden auch verwendet, denn sie sind schlecht für Geister. Oder man legt Stöcke oder Steine in Form eines Fünfecks zusammen. Das nennt man Pentagramm oder Drudenfuß, und es bannt die Geister. Manche Leute schwören auf Eisenspäne und Essig, andere glauben an Salz. Aber entscheidend sind die Geistlichen, und sie müssen bereit sein, tagelang mitzumachen, denn Geisteraustreiben kann lange dauern.
Sobald Lord Bullhaven die Geister in die Falle gelockt hatte, suchte er Geistliche, die bereit waren, mit ihm nach Nordschottland zu fahren, um die Geister zu beseitigen. Aber das erwies sich als ziemlich schwierig. Nicht so schwierig, wie es hätte sein sollen, aber schwierig war es.
Denn Geistliche sind meistens gute, freundliche Menschen. Sie kümmern sich um Alte und Kranke in den Gemeinden. Sie üben mit dem Kirchenchor, halten Weihnachtsfeiern ab und predigen. Kurz und gut, sie sind meistens viel zu beschäftigt, um auf einer kalten, windigen Insel in Nordschottland Zauberworte runterzuleiern.
Als ersten fragte Lord Bullhaven den Pfarrer seiner eigenen Gemeinde. Der lehnte rundweg ab, weil er Lord Bullhaven gut genug kannte, um mit ihm nirgendwohin zu wollen.
Der zweite Pfarrer, den er fragte, lebte in einem großen, verschachtelten Haus in der nächsten Stadt. Er sagte, er möge Geister gern und ziehe es vor, nicht bei ihrer Vertreibung zu helfen.
»Aber das sind doch abstoßende, unreine Spukgestalten!« schrie Lord Bullhaven.
Der Pfarrer lächelte nur und sagte, es täte ihm leid, aber er würde nicht mitkommen.
So ging es tagelang weiter. Lord Bullhaven fuhr in seinem großen schwarzen Auto in ganz Südengland herum und versuchte, Pfarrer zu finden, die mitkommen wollten. Alle waren zu beschäftigt oder zu vernünftig oder zu freundlich. Einige hielten es auch für empörend, jemanden aus einem Asyl zu vertreiben.
Schließlich fand er doch jemanden. Mr. Wallace war sehr arm. Er hatte neun Kinder, das Dach des Pfarrhauses leckte, die Kirche war baufällig, und seine Frau, die mit einem kümmerlichen Einkommen wirtschaften mußte, war so erschöpft, daß sie abends, wenn die Kinder im Bett waren, nur noch weinte.
»Wenn Sie mich begleiten«, versprach Lord Bullhaven, »gebe ich Ihnen einhundert Pfund.«
Also entschloß sich Mr. Wallace mitzufahren, weil er an Kleidung und Essen für seine Familie denken mußte.
Anschließend fand Lord Bullhaven noch einen weiteren Pfarrer. Mr. Hoare-Croakington war nicht nur alt und schwerhörig, sondern auch schon etwas durcheinander. Er war der Meinung, nach Schottland zur Moorhuhnjagd eingeladen worden zu sein, was später zu einem ziemlichen Durcheinander führte.
Der letzte, den Lord Bullhaven gewinnen konnte, Mr. Heap, war von höchst unangenehmer Wesensart. Er war Priester gewesen, bis man ihn aus der Kirche ausschloß, weil er Geld aus dem Opferstock gestohlen und Whisky davon gekauft hatte. Aber er trug immer noch seinen Priesterrock, und Lord Bullhaven glaubte, er sei ein richtiger Geistlicher.
Weitere Geistliche konnte Lord Bullhaven nicht auftreiben. Es fand sich nur noch ein ziemlich verdrehter Professor von der Londoner Universität, der Bücher über die Geisterjagd schrieb. Er hatte eine Menge Theorien, die er ausprobieren wollte, zum Beispiel auf Messingbecken schlagen, Backpulver ausstreuen oder Schwefelkristalle verbrennen. All diese Methoden waren nach Ansicht von Professor Brassnose einsetzbar bei der Geisteraustreibung, auch wenn ihre Wirkung noch nicht erwiesen war.
An einem schönen Tag Ende Oktober packte Lord Bullhaven Bücher mit Zaubersprüchen, Klappstühle und Thermosflaschen in den Kofferraum seines großen schwarzen Rolls-Royce. Die Geistlichen und Professor Brassnose stiegen ein, und ab ging die Fahrt nach Insleyfarne.
14. Kapitel
»Ich ... glaube nicht ... daß es noch lange dauert«, sagte die Hexe.
Sie lag auf einem Bett vermodernder Blätter im Festsaal des Schlosses. Im Arm hielt sie das, was von ihrem geliebten Gemahl, dem Schwebenden Kilt, übriggeblieben war.
Sehr viel war das nicht. Seine Beinstümpfe waren verschwunden. Brust und Arme waren nur noch ein schwacher Schimmer in der Luft. Nur das edle Schottenmuster seines Kilts war geblieben - das und seine klugen, tröstenden Worte: »Wir waren... so glücklich zusammen. Sei nicht traurig.«
Aber die Hexe war traurig. Unsagbar traurig. Tränen rollten über die bärtigen Wangen, und ein verschwenderisches Gemisch von Düften entwich ihrem kranken Körper, als sie sich an die schönen Zeiten erinnerte, die sie mit ihrem Gemahl verbracht hatte. »Und meine Kleinen«, stöhnte sie.
»Am besten gehen wir alle ... zusammen«, gab der Schwebende Kilt zur Antwort, dessen Gesicht auf einer Seite schon zu bröckeln anfing.
Mit schwachen, schmerzenden Armen griff die Hexe nach George, der zu ihren Füßen lag. Sein Schädel war fast völlig geschmolzen, und seine Schreie hörten sich an wie das unterdrückte Quieken einer Maus. »Winifred?« flüsterte die Hexe.
Hoffnungsloses Schluchzen antwortet ihr. Ohne ihre Wasserschale war Winifred ein Nichts. »Humphrey?«
Keine Antwort.
»Humphrey!« rief die Hexe noch einmal.
Immer noch keine Antwort. Gerade noch hatte er neben ihr gelegen. Humphrey mußte tot sein. Ein Opfer des Exorzismus. Zurückgeschickt dahin, woher Geister kommen. Verzweifelt schloß die Hexe die Augen und bereitete sich auf den Tod vor.
Humphrey war jedoch nicht tot, nur fürchterlich schwach. Während er zwischen George und Winifred lag, den bohrenden Schmerz in seinem armseligen Plasma fühlte und zusah, wie die hellrote Farbe aus seinen gequälten Gliedern wich, wollte er nur noch, daß das Ende schnell kam.
Und dann passierte etwas. Ein kleiner, sich windender Denkwurm in seinem Gehirn sagte: »Nein, du darfst dich nicht einfach hinlegen und sterben. Dazu bist du zu jung, Humphrey der Schreckliche. Du wirst etwas tun. Du wirst Hilfe holen.« Und als der kleine zappelnde Wurm in Humphreys Gehirn das Wort Hilfe ausgesprochen hatte, wurde er auf einmal ganz groß, richtete sich auf und sagte nur noch: »Rick. «