Plötzlich fiel Rick etwas ein. Peter war klein und dünn und blaß, er hatte blonde Locken und veilchenblaue Augen. Er war in den ersten Wochen krank vor Heimweh gewesen und hatte fast immer geweint. Trotzdem ärgerte ihn keiner. Maurice Crawler hatte versucht, ihn gegen die Wand zu drücken, und hatte auf dem Boden gelegen. - »War das Judo?« hatte Rick Peter gefragt, denn Maurice war doppelt so groß wie Peter. -Peter hatte den Kopf geschüttelt. Er wende Judo zwar oft an, aber dies sei Aikido. Es komme auch aus Japan. Sein Vater habe es ihm beigebracht. Als er das Wort »Vater« aussprach, fing er wieder an zu schniefen.
Rick hatte damals nicht weiter darüber nachgedacht, aber jetzt faßte er einen Entschluß. »Du kommst mit«, sagte er zu Peter und schob ihn zum offenen Schlafsaalfenster. »Kannst du am Efeu runterklettern, Barbara?«
Barbara nickte. Sie war so wütend über das, was man Humphrey angetan hatte, daß sie nicht sprechen konnte.
»Also, dann los«, sagte Rick.
Sie kletterten am Efeu hinunter und liefen den Kiesweg entlang, der von der Schule wegführte. »Es wird alles wieder gut«, sagte Rick zu Humphrey. »Ich verspreche es, alles wird wieder gut. «
Rick war bei weitem nicht so sicher und hoffnungsvoll, wie er sich anhörte. Insleyfarne lag über dreihundert Meilen im Nordwesten. Geister können so schnell schweben, daß man ihnen über größere Entfernungen kaum folgen kann. Selbst mit dem Zug oder im Auto würden sie höchstwahrscheinlich zu spät kommen. »Die Frage ist, wie wir schnell genug hinkommen«, sagte Rick aus seinen Gedanken heraus.
Er hatte nicht mit Barbara gerechnet. »Ich weiß, wie wir's schaffen.« Sie keuchte vom Laufen. »Miss Thistlethwaite ... die brauchen wir.«
Rick war so überrascht, daß er stehenblieb. »Miss Thistlethwaite? Bist du verrückt?«
Miss Thistlethwaite kam dienstags und donnerstags auf dem Fahrrad in die Schule, um Geige und Klavier zu unterrichten. Sie war eine recht auffallende Dame in ihrem langen schwarzen Kleid, das von einer Bademantelkordel zusammengehalten wurde. Und zuweilen, wenn Maurice Crawler E-dur nicht traf oder Smith wie ein Panzerwagen durch Schuberts Wiegenlied donnerte, hörte man sie gequält aufschreien.
»Warte mal, morgen ist doch Vollmond, nicht?« sagte Barbara. »Dann müssen wir jetzt ins Gemeindehaus.«
Wenn es nicht Barbara gewesen wäre, hätte sich Rick an die Stirn gefaßt. So aber zuckte er nur mit den Schultern, lief weiter und sah sich nur hin und wieder um, ob die Crawlers ihnen auf den Fersen waren.
Das Gemeindehaus war ein niedriges Gebäude aus Holz und stand auf einer Wiese neben der Kirche. Die Tür war verschlossen, die Vorhänge waren zugezogen. Auf einem Zettel an der Tür stand in roter Schrift Frauen-Teeklub. Nur für Mitglieder. Hintereingang benutzen.
An der Rückseite des Gebäudes war eine kleine Tür, die in eine Garderobe führte. Schnell schlüpften die Kinder hinein, und das ausgefranste graue Etwas, das Humphreys Ellbogen war, folgte. Sie öffneten die Tür, die in den Gemeinderaum führte, einen Spaltbreit und sahen hinein. Der Raum war dunkel und wurde nur von großen Kerzen erhellt. Eine seltsame blaue Flamme flackerte in einem Holzkohlebecken auf dem Klavier. An drei Seiten des Raumes standen Tische voller Dinge, wie man sie auf Dorfbasaren kauft oder verkauft: Gläser mit Marmelade, Kuchen, Häkeldeckchen...
Aber die dreizehn Damen, offenbar der FrauenTeeklub, kauften oder verkauften nichts. Sie tanzten. Sie bewegten sich im Kreis und aus dem Kreis heraus, sie hoben die Füße und stampften ...
»Sieh dir ihre Hüte an«, flüsterte Barbara.
Miss Thistlethwaite trug einen Hut, der mit Tollkirschen, Mistelzweigen und Klatschmohn geschmückt war. Mrs. Bell-Lowington, die im Herrenhaus wohnte, trug eine ausgestopfte Eule auf dem Kopf. Miss Ponsonby, die Leiterin des Postamts, trug einen rosafarbenen, mit schwarzen Dreiecken bestickten Glockenhut.
Jetzt gaben sie sich die Hände und sangen. Die Melodie war angenehm, aber die Worte klangen unverständlich.
»Eko, Eko Azarak! Eko, Eko Zomelak!-Eko, Eko Cernunnos! Eko, Eko, Arada!«
»Fertig?« flüsterte Barbara und öffnete die Tür.
Der Kreis der Tänzerinnen erstarrte. Ihre Münder schlossen sich nach dem letzten Wort des Liedes, und dreizehn Augenpaare richteten sich eher unfreundlich auf die drei Kinder.
»Miss Thistlethwaite«, sagte Barbara. »Bitte, Miss Thistlethwaite.«
Miss Thistlethwaite tat einen unsicheren Schritt vorwärts.
»Fredegonda«, sagte Mrs. Bell-Lowington, die den Tanz geleitet hatte, mit Donnerstimme, »was tun diese Kinder hier?«
Miss Thistlethwaite schüttelte nervös den Kopf. »Ich weiß es nicht, Nocticula.«
»Bitte, seien Sie nicht böse«, sagte Barbara. »Wir wissen, daß Sie Hexen sind. Wir werden es keiner Seele sagen. Aber bitte, bitte, helfen Sie uns. Wir sind in Not!«
Unruhe breitete sich unter den Hexen aus. Der Kreis löste sich auf, und Fredegonda (das war Miss Thistlethwaites Hexenname, denn es ist schwer, Hexe zu sein, wenn man auf den Namen Ethel getauft ist) kam auf die Kinder zu. Ihr folgte die Hexenmeisterin Nocticula (sie hieß mit Taufnamen Daisy, was sich noch schlimmer anhörte).
»Was wollt ihr von uns?«
Zur Antwort schnippte Rick mit den Fingern, und der vor Erschöpfung zitternde Humphrey erschien vor den Hexen. Schweigend blickten sie auf seinen sich zersetzenden Plasmakörper, die geschwollenen Gelenke, den Ausschlag auf seinem übel zugerichteten Gesicht...
»Exorzismus!« rief Nocticula mit Donnerstimme. »Ein abscheulicher Brauch.«
»Der arme kleine Kerl«, sagte Fredegonda.
»Das ist der Eisenspanzauber. « Melusina, eigentlich Miss Ponsonby von der Post, hob Humphreys linke Hand. »Ein sehr grausamer und unzivilisierter Brauch. Seht euch nur die aufgeweichten Knöchel an.«
»Wer ist dafür verantwortlich?« Nocticulas Augen funkelten. Hexen und Geister mögen einander, und der Anblick von Humphrey machte sie wütend.
Rick erzählte die ganze Geschichte. Vom Geisterasyl, das sich als Falle erwiesen hatte. Von dem Zustand der Geister auf Insleyfarne und daß sie sofort dorthin müßten.
»Vielleicht auf einem Besenstiel?« fragte Peter. »Ein Besenstiel«, stieß Nocticula wütend hervor. »Oder was wird heutzutage benutzt? Vielleicht ein Staubsauger?« hakte Peter nach.
»Du bist noch jung«, erwiderte Nocticula. »Das ist aber kein Grund, dumm zu sein. Vermutlich sind Hexen nie auf
Besenstielen geritten. Heutzutage tun sie es jedenfalls mit Sicherheit nicht.«
»Aber gibt es denn keine Möglichkeit, wie wir dort hinkommen können?«
»Hexenkraft besteht nicht aus idiotischen Tricks«, sagte Nocticula. »Sie ist Power. Willenskraft. Die Kraft, etwas in Bewegung zu setzen. Weiße Hexen lassen gute Dinge geschehen. Schwarze Hexen lassen böse Dinge geschehen. Auf Besen reiten, Leute in Kröten verwandeln, das ist alles bloß fauler Zauber.«
»Könnt ihr uns dann nicht helfen?« Ricks Stimme klang traurig.
»Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte Nocticula leicht gereizt. Sie wandte sich den Hexen zu. »Los, Mädchen, schnell jetzt.«
Rick, Peter und Barbara folgten den Hexen zu den Tischen an der Wand. Aus der Nähe erkannten sie, daß dort nicht das gewöhnliche Angebot eines Dorfbasars aufgebaut war. Da standen Töpfe mit bitterer Wermutmarmelade, Flaschen mit pulverisierter Galle und Töpfchen, auf denen Korianderzauber, Immergrünzauber oder Liebestrank stand.
Auf einem Tisch mit Handarbeiten lagen mit Mondkraut, Fünffingerkraut und Eppichblatt gefüllte Säckchen. In der Keramikabteilung standen Töpfe und Tassen mit zwei Henkeln, die mit seltsamen Zeichen bemalt waren.