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Der Tisch, an dem Nocticula jetzt stehenblieb, war der interessanteste. Auf ihm befanden sich handgemachte, lebensnahe Puppen in moderner Kleidung.

»Seht mal, da ist Mrs. Crawler.« Rick deutete auf eine dicke Puppe in blauem Kleid.

»Und da ist der Pfarrer«, sagte Peter. »Und Ted, der Milchwagenfahrer.«

Die Kinder merkten, daß jede Puppe wie jemand aussah, der im Dorf oder in der Nähe lebte.

»Dieser hier, nehme ich an.« Nocticula griff nach einer Puppe in einem blauen Overall und mit Kopfhörern.

Die Kinder erkannten ihn sofort. Es war ein junger Mann namens Peregrine Rowbotham. Sein Vater war reich. Peregrine tat nichts als sich auf zahlreichen Partys zu vergnügen oder in seinem Privatflugzeug herumzufliegen.

»Stimmt.« Nocticula hob ihren Rock, zog ein Stück Kreide aus der Tasche ihrer grünen Unterhose und zeichnete ein Dreieck auf den Boden. Fredegonda schüttete Weihrauch in das Gefäß mit glühender Holzkohle, und Melusina ging zu dem Tisch mit den Kochzutaten und zerrieb verschiedene Kräuter auf einem Holzbrett. Es war, als ob Krankenschwestern sich auf eine Operation vorbereiteten.

»Wir haben keinen Friedhofsstaub mehr«, stellte Melusina fest.

»Macht nichts«, gab Nocticula ungeduldig zur Antwort. »Nimm Drachenblut.«

Als die Vorbereitungen abgeschlossen waren, wurde die Puppe in die Mitte des Dreiecks gesetzt. Die Hexen standen drum herum. Man sah, daß sie sich alle sehr konzentrierten.

»Im Namen von Cernunnos dem Gehörnten, wir wecken dich vom Schlaf auf, Peregrine Rowbotham«, sagte Nocticula.

»Möge Reiselust dich erfüllen und vom Bett aufstehen lassen«, sang eine zweite Hexe.

»Möge deine Seele sich nach dem fernen Insleyfarne sehnen«, sagte eine dritte.

»Wach auf. O Peregrine, wach auf, wach auf und komm!« riefen jetzt alle im Chor.

Nocticula zog eine Nadel aus ihrem Hut und steckte sie vorsichtig in den Fuß der Puppe. Die Hexen hoben die Arme, und eine blaue Flamme schoß aus dem Schmelztiegel.

»Hör mein Wort und folge ihm, Wo ich es will, da geh du hin!« Dann befahl Nocticula, die Tür zu öffnen.

Zwei Minuten vergingen, fünf, zehn ... Und dann hörten sie die Bremsen eines Wagens vor dem Haus quietschen. Auf der Schwelle stand blinzelnd und völlig verwirrt Peregrine Rowbotham. »Wie isses, will jemand in meiner Mühle mit nach Insleyfarne kommen? Mir kam auf einmal die Idee, dorthin zu fliegen.«

Rick und Barbara rissen den Mund auf. Langsam gingen sie auf den Mann zu und sagten: »Ja, wir würden gerne mitfliegen. Bitte!«

15. Kapitel

Der arme Peregrine Rowbotham hatte in seinem Himmelbett in Rowbotham Hall gelegen und leise geschnarcht. Es war mitten am Nachmittag und eine komische Zeit zum Schlafen, aber Peregrine war die ganze Nacht bis morgens früh um acht auf einer Party gewesen.

Zuerst hatte Peregrine dasselbe wie immer geträumt: Von schönen Mädchen, schnellen Autos und von den Pferden, auf die er gesetzt hatte. Dann änderten sich die Träume allmählich. Er sah purpurrote Heide, reißende Bäche und Moor. Dann sah er ein Felsenriff, das in den wilden Atlantik hinausragte. Es war eine finstere, windzerzauste Gegend mit verkrüppelten Bäumen und einem dunklen, verfallenen Schloß. Peregrine zog es in seinem Traume gerade zu dieser Stelle; mehr als alles andere in der Welt wünschte er sich, dort zu sein. »Insleyfarne«, sagte er im Schlaf. »Ich möchte nach Insleyfarne!«

Ein plötzlich auftretender Krampf in seinem rechten Bein ließ ihn wach werden. Ohne zu wissen, was er tat, begann er, sich anzuziehen ... »Insleyfarne«, wiederholte er, noch in Unterhosen. »Insleyfarne.«

Als er angezogen und in seinen Jaguar gestiegen war, merkte er, daß er nicht direkt zum Flugplatz fahren wollte, wo seine Maschine stand. Irgend etwas ließ ihn nach links statt nach rechts abbiegen, in Richtung Dorf.

»Einsam«, sagte Peregrine mit noch schlaftrunkener Stimme. »Der arme Peregrine braucht Freunde, um nach Insleyfarne zu fliegen.« Und er fuhr direkt zum Gemeindehaus.

Und jetzt flog er mit drei ihm unbekannten Kindern und einem merkwürdigen, spinnwebartigen grauen Gebilde, auf das er immer wieder sehen mußte, wenn er sich umdrehte, nach Norden.

»Es war Hypnose, oder?« sagte Barbara.

Rick zuckte die Achseln. »Hypnose, Willenskraft, Hexerei -es ist alles dasselbe, nehme ich an. Wenn wir nur nicht zu spät kommen.«

Sie flogen über dunkle Seen, Felseninseln, über Fichtenwälder und weite Moorflächen. Das Land wurde wilder, düsterer.

»Insleyfarne!« rief Rick endlich. »Da unten, seht!« Peregrine flog eine Kurve und landete auf einem langen leeren Strand mit festem Sand im Norden des Felsenkaps.

Es ist nicht einfach, mit nur vier Leuten eine Insel, noch dazu eine so große, einzukreisen, aber Lord Bullhaven hatte es geschafft.

Er hatte Mr. Heap auf einen Felsvorsprung unterhalb des Schlosses gesetzt. Mr. Wallace, der nette Geistliche mit den neun Kindern, saß auf dem Kiesstrand neben der Straße, die auf das Festland führte. Mr. Hoare-Croakington saß auf dem Hügel neben dem Raketenschießplatz, und Professor Brassnose befand sich unten bei der zerfallenen Kapelle und der Quelle. Alle hatten sie Klappstühle und Sandwichpakete und Thermosflaschen mit heißem Kaffee, damit sie ohne Unterbrechung exorzieren konnten. Natürlich hatten sie auch Bücher mit Bannsprüchen und Ebereschenzweige. Professor Brassnose hatte zusätzlich Essig und Eisenspäne und Gongs und eine Sammlung von Salben und Puder aus seinem Laboratorium mitgebracht.

Lord Bullhaven war viel zu aufgeregt, um still auf seinem Stuhl sitzenzubleiben. Er lief auf der Insel herum, rief: »Gräßliche Gruselgestalten!« - »Dreckiger Abschaum!« und »Britannien den Briten.« Dabei machte er schiefe Fünfecke aus allem, was ihm in die Hände fiel. Wenn einer der Geisterbeschwörer mal eine Pause machte, um sich die Beine zu vertreten, erschien sofort Lord Bullhaven und brüllte: »Zurück auf den Posten! Zurück, verdammt noch mal!«

Mr. Heap nahm keine Notiz von dem Flugzeug, das über ihm dahinzog und dann zwei oder drei Meilen weiter nördlich landete. Er saß mit dem Rücken zur See, und sein Gesicht war dem Schloß zugewandt. Zigarettenschachteln und Butterbrotpapier lagen um ihn herum, denn er war nicht nur ein gemeiner Kerl, sondern auch ein Umweltverschmutzer. Er rasselte den Geisterbannspruch Nr. 976 mit so viel Haß herunter, daß Spucke auf die Buchseiten tropfte.

»Spinnen, Skorpion, Krötentier, Fahrt zur Hölle jetzt und hier. Blasen, Gallengift und Pest, Böse Krankheit und der Rest. Fort mit Hexe und Vampir, Erde sauber jetzt und hier!«

Und dann saß Mr. Heap plötzlich nicht mehr auf seinem Stuhl, sondern auf einem rutschigen Felsen, und ein kleiner blonder Junge, der aus dem Meer gekommen zu sein schien, beugte sich über ihn. »Bitte hören Sie jetzt auf damit«, sagte Peter Thorne höflich.

»Was ... du ... du ... « Mr. Heap rappelte sich auf und streckte eine große, behaarte Hand aus, um Peter am Hals zu packen.

Aber da war kein Hals mehr, sondern nur noch dünne Luft, und Peter schien sich in eine Kugel aus Blei zu verwandeln, die auf Mr. Heaps fetten, ungeschützten Bauch zuflog.

»Aaaau!« schrie Mr. Heap und fiel auf den Felsen zurück.

Bevor er sich wieder hochgerappelt hatte, lief Peter mit dem Buch die Treppen zum Schloß hinauf. »Gib mir das Buch zurück, du kleiner Mistkerl«, schrie Mr. Heap.

Peter drehte sich auf der obersten Stufe nach ihm um. »Wenn Sie es haben wollen, holen Sie es sich!« rief er und rannte den steilen Klippenweg entlang bis zur Zugbrücke, die den Schloßgraben aus Lehm und Matsch überspannte. Dort blieb er stehen und wartete auf Mr. Heap, der in Schweiß gebadet und vor Wut kochend hinter ihm hergerannt war.