»Hier ist Ihr Buch«, sagte Peter mit honigsüßer Stimme.
Mr. Heap griff danach. Peter kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich. Der Uki-Otoshi war schwierig, man mußte ihn sehr genau ansetzen. Peter fiel auf ein Knie, machte das andere Bein ganz steif, und als der fette, keuchende Mann gegen ihn fiel, stieß er mit aller Kraft zu.
Mr. Heap segelte mit all seinen vielen Pfunden durch die Luft und landete mit einem Platscher, der einen Schwarm Möwen in die Flucht schlug, im grünen schlammigen Wasser des Grabens.
In der Zwischenzeit wurde der arme Mr. Hoare-Croakington, der auf dem kahlen Felsen neben dem Raketenschießplatz saß, immer verwirrter. Er war so sicher gewesen, daß man ihn nach Insleyfarne zur Moorhuhnjagd eingeladen hatte. Mr. Hoare-Croakington war noch nie auf Moorhuhnjagd gewesen, er war überhaupt noch nie auf Jagd gewesen, und er hatte sich so darauf gefreut. Aber niemand hatte ihm ein Gewehr und Patronen gegeben. Statt dessen hatte man ihn auf einen Klappstuhl auf einem sehr kalten Hügel gesetzt und ihm befohlen, Gedichte aus einem Buch aufzusagen. Mr. Hoare-Croakington mochte keine Gedichte. Er war enttäuscht und traurig.
Nach einer Weile wurde seine Laune besser, und das hatte folgenden Grund: Im Hotel, wo sie übernachtet hatten, war auf Anordnung von Lord Bullhaven jedem eine Thermosflasche mit Kaffee ausgehändigt worden, damit sie wach blieben. Das überforderte Küchenmädchen hatte die Thermosflasche von Mr. Hoare-Croakington mit der Flasche von General Arkwheeler verwechselt. Und der ließ seine Thermosflasche immer mit purem Whisky füllen. Mit jedem Schluck wurde Mr. Hoare-Croakington fröhlicher, und seine Gedanken gerieten immer mehr durcheinander.
»Spuk (hick) und Pest und Zauberbuch. Treib hinweg (hick, hick) den Geisterfluch«, sang er. Dann machte er: »Bumm-bumm.«
»Nein«, sagte Barbara, die plötzlich aus dem hüfthohen Heidekraut aufgetaucht war.
»Nein?« Mr. Hoare-Croakington war sehr überrascht, sie zu sehen. »Kein Bumm-bumm?« Barbara schüttelte den Kopf. »Hier gibt es doch nichts zum Bumm-bumm-Machen, oder?« Sie wies in die Runde und nahm behutsam das Buch mit den Beschwörungsformeln von den Knien des alten Mannes.
»Moorhühner?« Hoffnung schwang in Mr. Hoare-Croakingtons Stimme.
»Keine Moorhühner hier.« Barbara zerstörte das ziemlich unvollkommene Pentagramm von Mr. Hoare-Croakington mit dem Fuß. »Aber ich weiß, wo es ganz wunderbare Moorhühner gibt. Wenn Sie mir folgen wollen. Große, fette Moorhühner...«
Das gefiel Mr. Hoare-Croakington. »Große, fette Moorhühner...«, wiederholte er verzückt.
Ruhig und ohne Widerstand ließ er sich von Barbara an den Enden seines Wollschals zum Wagen von Lord Bullhaven führen, der an der Straße parkte. Normalerweise kämpfte Rick nicht gerne. Er zog es vor, Dinge mittels Denken auszutragen. Auf dem Weg zu Professor Brassnose kam er jedoch an der Kapellenruine vorbei. Und als er sah, wie sich drinnen der Verrückte Mönch in Todesangst wand, wollte Rick nicht mehr länger nur denken. Professor Brassnose saß auf seinem Stuhl neben der Quelle. Er schlug den Gong und sagte einen Spruch aus dem Buch auf seinen Knien auf. Ein Behälter mit Eisenspänen und Essig stand neben seinem Stuhl, und die übrigen Zauberzutaten quollen aus einer Stofftasche neben ihm.
Im nächsten Augenblick war der Tascheninhalt in alle vier Winde zerstreut, das Zauberbuch wurde ihm aus der Hand und in tausend Fetzen gerissen, und die Flasche mit Essig lag zerschmettert zwischen den Eisenspänen.
»Aufhören!« kreischte Professor Brassnose und wedelte mit den Armen. »Sofort aufhören.«
»Halt den Mund, du mieses Mörderschwein!« Rick stieß den Stuhl des Professors um und kickte gleichzeitig den steinernen Drudenfuß weg.
»Hilfe!« schrie der Professor, dem Kämpfen ganz offensichtlich nicht lag. »Lord Bullhaven! Hilfe! Hier ist ein Verrückter. Hilfe! Hilfe!«
Lord Bullhaven war in gereizter Stimmung. Gerade war er einem fluchenden, schlammbedeckten Etwas begegnet, das, wie sich herausstellte, Mr. Heap war, der zum Auto taumelte und sich weigerte, seinen Posten wieder einzunehmen. Am Raketenschießplatz war Mr. Hoare-Croakingtons Stuhl leer gewesen. Und jetzt schrie dieser Idiot um Hilfe.
»Ich komme«, rief Lord Bullhaven und machte sich auf den Weg bergab zur Kapelle, wobei er mit seinem Ebereschenzweig um sich schlug. Als er Rick sah, wurden seine schlammbraunen Augen groß wie Mülleimerdeckel. »Du!« rief er mit Donnerstimme.
Rick blieb stehen und sah ihn an. »Ja«, sagte er. »Ich bin es. Der Junge, dem Sie ein Asyl für Geister versprochen haben.«
Lord Bullhavens Gesicht wurde purpurrot. »Verschwinde von meinem Land«, schrie er. »Verschwinde, und zwar für immer!«
Zur Antwort gab Rick Professor Brassnoses Stuhl einen weiteren Stoß und warf den Gong in die Quelle. Lord Bullhaven verlor jetzt den letzten Rest Beherrschung. Er rannte auf Rick zu und schlug mit seinem Zweig auf ihn ein. »Du bist schuld, du Mistkerl, du hast alles verdorben. Ich bring dich um, ich...«
»Nein«, sagte eine ruhige Stimme. »Das glaube ich nicht.«
Mr. Wallace, der Pfarrer mit den neun Kindern, hatte das Geschrei gehört und wollte nachsehen, was los war. »Sie tun dem Jungen weh«, sagte er. »Lassen Sie ihn los.«
Lord Bullhaven schlug Rick noch einmal auf die Schulter, dann wandte er sich Mr. Wallace zu. »Sie sind auf ihrer Seite«, schrie er. »Sie stecken mit den Geistern unter einer Decke. Sie sind ein Spion, Sie sind ein Hexenmeister. Ich lasse Sie auspeitschen, wenn Sie nicht zurückgehen, ich lasse Sie hängen...« Lord Bullhaven senkte den Kopf und ging zum Angriff über.
Mr. Wallace war früher einmal Boxchampion in seinem theologischen Seminar gewesen. Er nahm sich gerade noch Zeit, Gott um Vergebung zu bitten. Dann hob er die Fäuste, und das war's auch schon.
Sie zogen den ohnmächtigen Lord Bullhaven in Richtung Auto, als ein schrecklicher, erbarmungswürdiger Schrei vom Schloß zu hören war.
Rick wurde blaß und zitterte. »Das ist die Hexe«, sagte er. »Ich kenne ihre Stimme.«
»Dann geh nachsehen«, sagte Mr. Wallace, dem Rick die ganze Geschichte erzählt hatte. »Ich fahre dieses Pack ins Hotel zurück.«
Rick drehte sich um und lief, gefolgt von Barbara und Peter, in Richtung Schloß.
16. Kapitel
»Hexe!« schrie Rick. Er konnte kaum die Tränen zurückhalten. Noch war sie da. Ihre behaarte Nase war jedoch verschwunden, ebenso ihr gekrümmter Rükken. Die gezackten Flügel waren welk und schwach wie Herbstblätter. Am meisten angst machte Rick aber, daß sie absolut nicht roch.
»Rick«, flüsterte die Hexe und sah mit einem schmerzlichen Blick zu ihm auf.
»Es wird alles gut. Wir haben die Geisteraustreiber gefaßt. Es ist vorbei.« Rick beugte sich über sie. Die Hexe versuchte, den Kopf zu schütteln. »Zu spät«, flüsterte sie. »Sieh nur!« Sie hob mit schwacher Bewegung eine Klaue und deutete auf ein Stück Schottenstoff, das neben ihr auf dem Boden lag. Es war alles, was vom Schwebenden Kilt übrig war.
Auf der anderen Seite der verzweifelten Hexe lag ein kleiner Haufen gelblicher Blasen - das war der geschmolzene Schädel von George. Winifred, eingehüllt in ihr Leichentuch, war ohnmächtig geworden.
»Und mein Kleiner... Ich habe ihn für immer verloren. Mein Humphrey, man hat ihn umgebracht.« »Nein, Mutter, ich lebe noch, sieh mich an!« Sobald der Exorzismus aufgehört hatte, fühlte Humphrey, wie seine Kraft zurückkehrte, und er verließ das Flugzeug. Als er jetzt zu seiner Mutter schwebte, um sie zu umarmen, war er schon fast wieder er selbst.
»Ich habe Rick geholt, und er hat die Leute erledigt, die uns umbringen wollten.« Humphrey wedelte wild mit den Armen. »Mit Peter und Barbara. Ich wußte, daß Rick uns retten würde.«