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Er sah sich im Schlafsaal um. Schloß Norton war vor hundert Jahren von einem reichen Bonbonfabrikanten namens Albert Borringer errichtet worden. Mr. Borringer war einer jener Typen, die kein Tier sehen können, ohne es zu erschießen, auszustopfen und an die Wand zu hängen. Als er starb und das Schloß eine Schule wurde, blieben die ausgestopften Tiere. In dem Bett gegenüber von Rick schnarchte unter einem riesigen Weißschwanzgnu mit sanftblickenden Glasaugen Maurice Crawler. Mit seinem vielen Speck, den Schweißfüßen und den kleinen Äuglein in der Farbe gebackener Bohnen war Maurice kein erfreulicher Anblick. Ohne ihn gäbe es allerdings auch die Schule nicht. Seine Eltern hatten die Schule gegründet, weil Maurice in keiner anderen Schule lange geblieben war. Aus fünf Schulen war er rausgeflogen, und das war kein Wunder. Maurice war ein Schlägertyp, er log und betrog.

Rick seufzte. Im Bett neben ihm schlief Peter Thorne. Er stöhnte im Schlaf. Peter hatte noch immer fürchterliches Heimweh. Rick tat er leid, aber er hätte lieber einen Verbündeten gehabt. Jemanden, der ihm half, etwas zu tun.

Plötzlich beugte Rick sich vor. Was war das seltsame rosafarbene, spinnwebartige Ding, das da am Ende seines Bettes hing? Er streckte die Hand aus. Zu seinem Erstaunen gab es keinen Widerstand, seine Hand berührte das Bettende.

»Nein!« flüsterte Rick. »Ich glaub's nicht. Ich glaub's einfach nicht.«

Die Hexe hatte Humphrey vor dem Schlafengehen sehr eindringlich befohlen, nicht sichtbar zu werden, bevor sie es ihm erlaubte. Aber wenn einen jemand am Ellbogen kitzelt, während man fest schläft, denkt man natürlich nicht an mütterliche Ermahnungen. Schon im nächsten Augenblick, während er sich noch die Augen rieb und gähnte, war Humphrey klar und deutlich zu erkennen.

»Was glaubst du nicht?« fragte Humphrey mit verschlafener Stimme.

»Du kannst doch nicht da sein. Es ist unmöglich. Du kannst kein Gespenst sein.«

Humphrey war nicht besonders empfindlich, aber das ärgerte ihn. »Was meinst du damit, ich kann kein Gespenst sein? Ich bin ein Gespenst. Ich bin Humphrey. Humphrey der Schreckliche.«

Rick traute seinen Augen nicht. Aber da saß es, auf seinem Bett, durchsichtig wie Luft, mit einer Kette und einer Kugel an seinem Fußgelenk. Es rieb sich die Augenhöhlen mit seinen knöchernen Fingern.

»Wer bist du?« wollte Humphrey wissen. »Ich nehme an, du bist ein Mensch. Ein Junge?«

»Klar, ich bin Rick.«

»Nur Rick? Nicht Rick der Revoltierer oder Rick der Abstoßende oder sonst etwas?«

»Nein. Nur Rick Henderson. Rick ist die Abkürzung von Richard. Übrigens bist du gar nicht so schrecklich, oder? Ich meine das nicht persönlich.«

»Ich werde das noch«, meinte Humphrey zuversichtlich. »Ich wachse ja noch. Meine Mutter und mein Vater sind schrecklich«, fügte er voller Stolz hinzu. »Mein Bruder und meine Schwester auch. Und meine Tante Hortensia ist ganz entsetzlich.«

»Oh«, gab Rick zur Antwort. Er konnte noch nicht fassen, daß ein lebendiger, das heißt, ein toter Geist auf seinem Bett saß. »Sind die anderen auch hier?«

»Ja, alle. Wir sind in der vergangenen Nacht angekommen.«

Und er erzählte Rick seine abenteuerliche Geschichte, angefangen von der alten Abtei, wo man eine Zentralheizung eingebaut hatte, bis zum Schloß Craggyford, das eine Feriensiedlung werden sollte. Und er erzählte schließlich von dem armen Schack, der in einem Kohlebergwerk spukte.

Rick wurde beim Zuhören immer wütender. Nicht nur Pinguine und Wale und Kannibalen wurden vertrieben und ausgerottet, sondern auch Geister. »Es ist gemein«, sagte er, als Humphrey seine Erzählung beendet hatte. »Gespenster haben doch dasselbe Recht, da zu sein wie alle anderen. Es muß etwas geschehen.«

»Aber was?« Humphrey sah Rick voller Bewunderung an. Er fand ihn unglaublich klug.

»Ich werde darüber nachdenken. Glaubst du, ich könnte deine Familie kennenlernen?«

»Natürlich. « Humphrey schwebte zu Maurice Crawlers Bett hinüber.

»Meine Güte!« entfuhr es Rick.

Von Maurice, der seinen dicken Bauch nach oben reckte, erhoben sich zwei riesige, schwarze gezackte Flügel. Einen Augenblick lang bewegten sie sich auf und ab, denn die Hexe machte ihre Morgengymnastik. Dann teilten sie sich, und man sah eine große krumme Nase, schielende Augen und haufenweise schwarzes verfilztes Haar. Gleichzeitig drang der Geruch nach verwesenden Eingeweiden in Ricks Nase.

»Das ist meine Mutter«, flüsterte Humphrey voller Stolz.

»Mummy, das ist Rick.«

»Ich freue mich, Sie zu sehen«, erwiderte Rick höflich. Trotzdem war er froh, daß er Humphreys Mutter nicht zuerst begegnet war.

Sobald die Hexe richtig wach war, flog sie an die Decke, um ihren Gemahl zu wecken. Der Schwebende Kilt war auf dem Gehörn eines ausgestopften Gnus eingeschlafen. Er sah äußerst merkwürdig aus, als er anfing, sichtbar zu werden. Sein Kilt hatte sich an einem Horn verhakt, und sein Schwert, das er nicht herausgenommen hatte, weil er zu müde gewesen war, baumelte von seiner Brust herab.

»Wo sind seine Beine?« flüsterte Rick Humphrey zu.

»Er hat keine«, gab Humphrey stolz zur Antwort und erzählte die Geschichte von der Schlacht von Otternburn George aufzuwecken stellte ein Problem dar. Die Familie hatte nämlich Angst, daß er sofort schreien würde, und damit hätte er die anderen Jungen im Schlafsaal geweckt. Sie nahmen Ricks Kissen und legten es George, der unter das Bett eines Jungen namens Terence Tinn gerollt war, sofort über den Mund. Winifred, ein sehr vernünftiges Mädchen, wachte von allein auf und kam zwischen den Betten herangeschwebt. Dabei jammerte sie kein bißchen, obwohl ihr sehr nach Waschen zumute war und ihr Wassergefäß sie wieder einmal sehr ärgerte.

Die meisten Gespenster konnten sich auf Ricks Bett versammeln. Nur der getreue Schack mußte mit Tante Hortensias Kopf auf dem Boden bleiben, denn die Hexe mochte keine Hunde auf Bettdecken. Obwohl Rick die Gespenster allmählich lieb gewann, ließ ihn der Kopf doch zusammenzucken. Vor dem Frühstück sah er nie besonders gut aus, und heute war ein Auge verklebt, und ein halbes Dutzend Küchenschaben spielten in seinem linken Ohr Versteck. Es war wirklich kein sehr appetitlicher Anblick.

»Wo ist denn der Rest vom Tantchen?« erkundigte sich die Hexe. »Hier ist ein lieber Junge, der uns helfen will. «

In diesem Augenblick erschienen Hortensias große gelbe Füße in der Luft. Tante Hortensia hatte die Nacht in ihrer Geisterkutsche auf einem riesigen Schrank verbracht. Jetzt senkte sie sich herab und grollte, daß sie einen Krampf in ihrem Halsstumpf hätte.

»Sind das alle?« wollte Rick wissen. Die Geister nickten.

»Humphrey hat mir erzählt, daß man euch aus eurem Zuhause vertrieben hat«, fuhr Rick fort.

»Das stimmt.«

Sie hatten vergessen zu flüstern. Plötzlich hob Maurice Crawler den Kopf und stieß einen Schreckensschrei aus.

»Dinger«, stammelte er. »Widerliche, gräßliche Dinger!«

Rick sprang aus dem Bett und ging zu ihm rüber. »Sei ruhig, Maurice, du weckst die anderen.« »Stumpfige Stümpfe.« Die Stimme von Maurice überschlug sich. »Eklige Köpfe, schwarze Fledermäuse ... «

»Du spinnst ja«, erwiderte Rick mit fester Stimme. »Du hast geträumt. Sei jetzt ruhig. Mach die Augen zu und schlaf weiter.«

»Ein böser Junge«, stellte Tante Hortensias Kopf fest, nachdem Maurice wieder angefangen hatte zu schnarchen.