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Wolfgang Hohlbein

Die Chronik der

Unsterblichen

Am Abgrund

Erstes Buch

Scanner: Akascha

Korrektur und Layout: Jack

Umwelthinweis: Dieses Buch und der Schutzumschlag wurden auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt.

Die Einschrumpffolie - zum Schutz vor Verschmutzung - ist aus umweltverträglichem und recyclingfähigem PE-Material.

Ungekürzte Lizenzausgabe der RM Buch und Medien Vertrieb GmbH und der angeschlossenen Buchgemeinschaften

Copyright © vgs Verlagsgesellschaft, Köln 1999

Umschlag- und Einbandgestaltung: Günter Pawlak, FaktorZwo!, Bielefeld

Umschlagillustration: Fortin/ Sanders via Agentur Schluck GmbH;

Hintergrundbild: Mauritius

Satz: Greiner & Reichel, Köln

Druck und Bindung: GGP Media, Pößneck

Printed in Germany 2000

Buch-Nr. 07336

Wolfgang Hohlbein, 1953 in Weimar geboren, ist der meistgelesene und erfolgreichste deutschsprachige Fantasy-Autor. Seine Bücher decken die ganze Palette der Unterhaltungsliteratur ab - von Kinder- und Jugendbüchern über Romane zu Filmen bis hin zur Belletristik, von Fantasy über Sciencefiction bis hin zum Horror. Der Durchbruch gelang ihm 1982 mit dem Jugendbuch ›Märchenmond‹, für das er mit dem Fantastik-Preis der Stadt Wetzlar ausgezeichnet wurde. 1993 schaffte er mit seinem phantastischen Thriller ›Das Druidentor‹ im Hardcover für Erwachsene den Sprung auf die Spiegel-Bestsellerliste. Die Auflagen seiner Bücher gehen in die Millionen und immer noch wird seine Fangemeinde Tag für Tag größer. Der passionierte Motoradfahrer und Zinnfigurensammler lebt zusammen mit seiner Frau und Co-Autorin Heike, seinen Kindern und zahlreichen Hunden und Katzen am Niederrhein.

Osteuropa im 15. Jahrhundert. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel wird ein kleines Dorf im fernen Transsilvanien von den grausamen Vollstreckern der Inquisition in Schutt und Asche gelegt. Die Überlebenden werden verschleppt; nur der junge Frederic entkommt dem brutalen Überall. Als Frederic herausfindet, daß die heimtückische Tat einzig und allein dem Schwertkämpfer Andrej galt, ist es schon fast zu spät. Aber Andrej spürt den jungen Mann auf und nimmt ihn mit auf eine abenteuerliche und unglaublich gefährliche Reise quer durch Transsilvanien. Doch schon bald hegt Frederic einen furchtbaren Verdacht: Andrej, der Mann, der fast unbeschadet durchs Feuer gehen kann und die schwersten Verletzungen mühelos übersteht, muß mit dem Teufel im Bunde sein! Daß Andrej zu den letzten Unsterblichen gehört, die für ihr ewiges Leben einen hohen Preis bezahlen, ahnt er nicht.

1

Ein dünner Ast peitschte in sein Gesicht und hinterließ einen blutigen Kratzer auf seiner Wange. Die Wunde war nicht tief und würde so schnell heilen wie alle anderen Verletzungen, die er sich im Laufe seines Lebens zugefügt hatte. Der Schmerz war sowieso ohne Bedeutung - nachdem er Raqi und seine gerade erst geborene Tochter auf grausame Art verloren hatte, gab es nichts mehr, was ihn wirklich berührte. Und doch riß ihn das dünne Blutrinnsal auf seiner Wange für einen Moment aus seinen düsteren Gedanken. Andrej Delãny sah auf, unterzog seine Umgebung einer flüchtigen Musterung - und zügelte überrascht sein Pferd.

Er war zu Hause.

Er hatte geglaubt, ziellos durch das Land geritten zu sein, seitdem er sofort nach der improvisierten Beerdigung aufgebrochen war, aber dem war nicht so. Er war wieder am Ort seiner Geburt angekommen. Über den sanften Hügel, den sein Pferd hinaufgetrabt war, war er als Kind zusammen mit seinen Freunden getollt. Er erkannte die verkrüppelte, mächtige Buche, deren Äste sich wie die vielfingrigen Hände eines freundlichen Riesen in alle Richtungen reckten. Als Kind war er mehr als einmal von ihrem Wipfel gefallen, ohne sich auch nur ein einziges Mal einen Knochen zu brechen oder sich anderweitig zu verletzen.

Während er den gewaltigen Baum betrachtete, erschien ihm das immer unglaublicher - bis ihm klar wurde, daß die Buche aus der Sichtweite eines Kindes viel riesiger und furchteinflößend gewirkt hatte, gerade recht, um seinen Freunden seinen außergewöhnlichen Wagemut zu beweisen. Der Gedanke ließ ihn erschauern. In wie viele verrückte und gefährliche Situationen hatte er sich freiwillig begeben, nur um den anderen zu beweisen, daß er der Mutigste war? Und später hatte er dann oft daraus keinen Ausweg gefunden - wie nach dem verhängnisvollen Kirchenraub in Rotthurn, als er einem sogenannten Freund aus einer verzwickten Lage geholfen hatte, obwohl dieser eigentlich keine Hilfe verdient hatte. Mit gerade erst sechzehn Jahren war er so zum Ausgestoßenen geworden, ein Verdammter, dessen Leben nun keinen normalen Verlauf mehr nehmen konnte. Die Folgen dieser Entscheidungen hatten seinen ganzen Werdegang geprägt und letztlich auch dazu geführt, daß er Jahre später seinen Sohn Marius in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zu Verwandten ins Tal der Borsã hatte bringen müssen, ohne die Aussicht, ihn je wieder besuchen zu können.

Wieso also war er hierher zurückgekommen?

Nachdem er Raqi und seine Tochter beerdigt hatte - das zweite Kind, das ihm nun wieder entrissen worden war, nachdem er schon seinen Sohn hatte weggeben müssen, war er tagelang ziellos durch Transsilvanien geritten. Wie viele Tage es gewesen waren, hätte er nicht mehr zu sagen vermocht. Fünf, zehn oder hundert: Was machte das schon für einen Unterschied? Er hatte jedes Zeitgefühl verloren und war keiner bestimmten Richtung gefolgt, sondern hatte sich vom Zufall, der Willkür der Wegführung und dem Instinkt seines Pferdes leiten lassen - mit der einzigen Ausnahme allenfalls, daß er bewußt die Nähe von Menschen mied und sich nur gelegentlich auf irgendeinem abgelegenen Bauernhof mit Proviant versorgte.

Es konnte kein Zufall sein. Wollte er wider alle Vernunft ein Wiedersehen mit seinem Erstgeborenen erzwingen, den er nun schon vor langer, langer Zeit seinen Verwandten überlassen hatte mit der Bitte, ihn wie ihr eigen Fleisch und Blut aufzuziehen? Dieser Gedanke behagte ihm nicht, war er doch verbunden mit den allzu schmerzlichen Erinnerungen, vor denen er nun schon so lange davonlief. Da wäre es schon einfacher gewesen, dem Vorbild seines Stiefvaters zu folgen und hinauszuziehen in all jene fernen Länder und Kontinente, von denen Michail Nadasdy ihm im begeisterten Tonfall vorgeschwärmt hatte.

Andrej hatte anfangs nicht viel mit dem alten Haudegen anfangen können. Als Michail Nadasdy aus Alexandria nach Transsilvanien zurückgekehrt war, der alte Herumtreiber, der Frau und Stiefkinder schmählich im Stich gelassen hatte, und sich dann, wie aus einer plötzlichen Laune heraus, als Vater und Lehrer aufspielen wollte, da hatte er ihn regelrecht gehaßt. Nach einigen Monaten schlimmer Szenen und trotziger Verweigerung hatte Andrej schließlich einsehen müssen, daß sein Widerstand nicht nur aufreibend, sondern auch sinnlos war: Michail war tatsächlich ein weiser und stets geduldiger Lehrer, der es aufs trefflichste verstand, seine durch die vielen abenteuerlichen Reisen gewonnene Lebenserfahrung und Kampfkunst an ihn weiterzugeben.

Wenn er zurückblickte, mußte er gestehen, daß es fast so etwas wie der Anfang seines bewußten Lebens gewesen war, als sich Michail seiner angenommen hatte. Der einzige Wermutstropfen war, daß sie schon kurz nach Michails Rückkehr das Dorf fast fluchtartig hatten verlassen müssen: seine Mutter, Michail und er selbst. Aus einem Grund, den er bis heute noch nicht ganz verstanden hatte, waren dem Weltreisenden nicht nur Neid und Ablehnung entgegengeschlagen, sondern auch ein abgrundtiefer Haß, der sich schließlich in einer blutigen Gewalttat entladen hatte, bei dem Gott sei Dank niemand ernsthaft zu Schaden gekommen war. Noch in derselben Nacht hatten sie all ihre Habseligkeiten zusammengepackt und waren Hals über Kopf in die Berge aufgebrochen, wo sie für die nächsten Jahre unter vielen Entbehrungen ein sehr einfaches Leben geführt hatten. Er war der einzige gewesen, der noch recht lange zu gelegentlichen Besuchen ins Dorf aufbrach und von einem Onkel oder einer Tante heimlich etwas zugesteckt bekam - allen voran von Barak, der nie einen Hehl daraus gemacht hatte, daß er die Vertreibung von Andrejs Familie mißbilligte.