Der Mann steckte die Münzen ein und fragte: »Auch etwas zu essen?«
»Wenn in der Küche noch ein Feuer brennt, wäre das wunderbar«, antwortete Andrej. Er war nicht einmal besonders hungrig, aber Frederic brauchte etwas in den Magen. Ein nicht geringer Teil seiner niedergeschlagenen Stimmung rührte vielleicht von dem profanen Grund her, daß sie seit dem frühen Morgen nicht mehr als eine Handvoll Beeren zu sich genommen hatten.
»Kalter Braten und Kohl«, antwortete der Wirt. »Und bevor du fragst: Es ist kein Zimmer mehr frei, aber ihr könnt im Pferdestall schlafen. Es kostet nichts.«
»Danke«, antwortete Andrej überrascht. »Das nehmen ...«
»Wir müssen weiter«, fiel ihm Frederic ins Wort. »Wir haben versprochen, heute in der Stadt zu sein, hast du das schon vergessen?«
»Wir nehmen Euer Angebot gerne an«, sagte Andrej. Er warf Frederic einen scharfen Blick zu. »Es spielt keine Rolle, ob wir heute nacht oder morgen in aller Frühe ankommen.«
Der Wirt zuckte mit den Schultern und ging, um ihre Bestellung zu holen. Frederic spießte Andrej mit seinen Blicken regelrecht auf.
»Ihr kämt sowieso nicht in die Stadt, Junge.«
Andrej drehte sich umständlich auf dem harten Stuhl herum, um den Mann anzusehen, der sich in ihr Gespräch gemischt hatte. Es war einer der Gäste vom Nebentisch, ein Mann von etwa vierzig Jahren mit schulterlangem braunem Haar und in einer Kleidung, die für Andrej s Geschmack viel zu bunt war. Sein Gesicht wirkte exotisch, ohne daß Andrej genau sagen konnte, warum, und die Art, wie er sprach, ließ erkennen, daß er den hiesigen Dialekt nicht in der Kinderstube gelernt hatte. Aber er hatte ein freundliches, offenes Gesicht und Augen, denen man ansah, daß sie gerne und oft lachten.
»Wieso?« fragte Frederic.
Der Fremde griff nach seinem Bierkrug und nahm einen gewaltigen Schluck daraus, ehe er antwortete. »Sie schließen die Stadttore nach Einbruch der Dunkelheit«, sagte er. »Niemand kommt ohne einen Passierschein in die Stadt hinein oder aus ihr heraus. Habt ihr das nicht gewußt?«
»Nein«, antwortete Andrej. »Wir waren ... noch niemals hier.«
»Und wie es scheint auch noch in keiner anderen größeren Stadt, wie?« Der Mann lachte, und die drei anderen, die mit ihm am Tisch saßen, stimmten darin ein. Doch noch bevor Andrej entscheiden konnte, ob der Spott in ihren Stimmen nun verletzend war oder nicht, setzte er seinen Bierkrug ab und machte eine einladende Geste.
»Warum setzt ihr euch nicht zu uns?« fragte er. »Ihr seht aus, als könntet ihr ein paar Ratschläge gebrauchen - und wir sind begierig darauf, Fremde kennenzulernen, die interessante Geschichten zu erzählen haben.« Er streckte die Hand aus. »Ich bin Ansbert. Das sind meine Brüder Vranjevc, Sergé und Krusha.«
Andrej zögerte einen Moment, griff dann aber nach der dargebotenen Hand und drückte sie. »Andrej Delãny«, antwortete er, »vom Borsã-Tal. Das ist mein Bruder Frederic.«
»Vom Borsã-Tal?« wiederholte Ansbert. »Ihr kommt aus Transsilvanien?« fügte Sergé fragend hinzu.
Andrej nickte und stand gleichzeitig auf, um am Nachbartisch Platz zu nehmen. Frederic war es seinem Trotz schuldig, noch einen Moment lang sitzen zu bleiben, schließlich folgte er ihm aber.
»Ja, wir kommen aus Borsã, einem Dorf, das an dem Fluß Brasan liegt«, sagte er. »Sagt jetzt nicht, ihr hättet noch nie was von diesem Fluß gehört.«
Er behielt die Gesichter Sergés und seiner drei Brüder scharf im Auge, während er dies sagte. Es war nicht ganz ungefährlich, sich unter seinem richtigen Namen vorzustellen - vor allem nach dem, was vor wenigen Tagen im Borsã-Tal passiert war -, aber er würde nichts in Erfahrung bringen, wenn er nicht zugleich auch bereit war, ein gewisses Risiko einzugehen. Auf den Gesichtern der drei Männer zeigte sich jedenfalls nicht die geringste Reaktion.
Ansbert schüttelte heftig den Kopf. »Ein Fluß namens Brasan?« wiederholte er. »Nie gehört.« Er lachte. »Aber jetzt sei nicht beleidigt, Delãny. Wir sind nicht aus der Gegend. Du könntest die größte Familie Transsilvaniens anführen oder sogar der Thronfolger der Walachei sein, und wir wüßten wahrscheinlich trotzdem nicht, wer du bist.« Er trank wieder von seinem Bier und musterte Andrej und Frederic über den Rand des schweren Tonkruges hinweg. »Aber du siehst nicht aus, als wärst du ein Thronfolger«, fügte er hinzu.
»Wie sehe ich denn aus?« erkundigte sich Andrej.
»Was wollt ihr in Constãntã?« fragte Sergé, ehe sein Bruder antworten konnte. Hinter der Frage steckte mehr als bloße Neugier, das spürte Andrej. Und plötzlich begriff er auch, daß die Männer Frederic und ihn nicht nur aus purer Freundlichkeit an ihren Tisch gebeten hatten. Sie verfolgten eine ganz bestimmte Absicht. Er wußte nur noch nicht, welche.
»Wir ... wollen meine Schwester besuchen«, antwortete er vorsichtig. »Sie hat vor fünf Jahren nach Constãntã geheiratet. Seither haben wir sie nicht mehr gesehen.«
»Ihr kommt aus Transsilvanien hierher, nur um einen Familienbesuch zu machen?« fragte Krusha. »Das ist ein weiter Weg.«
»Vater ist im letzten Frühjahr gestorben«, sagte Frederic plötzlich. »Jemand muß es Lugova sagen.«
Andrej unterdrückte den Impuls, dem Jungen einen überraschten Blick zuzuwerfen. Frederic hatte bis jetzt geschwiegen - aber das bedeutete ganz offensichtlich nicht, daß er nicht zugehört hatte. Vielleicht spürte er ja auch, daß mit diesen vier Männern irgend etwas nicht stimmte.
»Wißt ihr denn, wo eure Schwester wohnt?« fragte Sergé. »Constãntã ist eine ziemlich große Stadt, mein Junge. Du kannst eine Woche nach jemandem suchen, ohne ihn zu finden.«
»Oder auch zwei oder drei«, fügte Ansbert hinzu. »Vor allem jetzt.«
»Wieso jetzt?« fragte Andrej.
»Es ist Markt«, antwortete Ansbert. »Die Menschen strömen von überall her in die Stadt.« Er machte eine ausholende Geste. »Das ist auch der Grund, weshalb meine Brüder und ich in dieser Kaschemme logieren statt in einer Herberge, die uns angemessen wäre. Es gibt in ganz Constãntã kein freies Zimmer mehr.«
»Ist das auch der Grund, aus dem sie nachts die Stadttore schließen?« erkundigte sich Andrej.
Sergé starrte ihn mit einem Ausdruck von Überraschung an, der zu spontan war, um gespielt zu sein.
»Dieses Borsã muß wirklich sehr weit entfernt sein«, sagte er. »Ihr wißt anscheinend nicht, was in der Welt vorgeht.«
»Was geht denn vor?« fragte Andrej.
Sergé und sein Bruder tauschten einen vielsagenden Blick, bevor Ansbert antwortete. »Krieg, Delãny«, sagte er.
»Krieg?« fragte Andrej. »Wer gegen wen?«
»Irgendwer führt immer gegen irgendwen Krieg«, antwortete Ansbert achselzuckend. »Wer gegen wen ... das spielt doch keine Rolle mehr, oder?« Er zuckte die Achseln. »Noch ist er nicht ausgebrochen, aber man erzählt sich so einiges von der Türkengefahr. Schlechte Zeiten ziehen schlechte Menschen an, ist es nicht so?«
»Aber das ist manchmal nicht das Schlechteste, was einem passieren kann«, fügte Krusha hinzu.
Andrej sah aufmerksam von einem zum anderen. »Worauf wollt ihr hinaus?« fragte er geradeheraus.
Ansbert lachte. »Ich habe mich nicht in dir getäuscht, Delãny«, sagte er. »Du scheinst ein kluger Mann zu sein.«
Der Wirt kam und brachte ihre Bestellung: einen Krug Bier für Andrej, heiße Milch für Frederic und zwei Portionen kalten Braten und nicht minder kalten Kohl. Der bloße Anblick der Mahlzeit ließ Andrej das Wasser im Munde zusammenlaufen, obwohl sie im Grunde alles andere als appetitlich aussah.
Sie unterbrachen ihr Gespräch, bis der Wirt wieder außer Hörweite war. Frederic begann das Essen in sich hineinzuschaufeln, und auch Andrejs Magen ließ ein lautstarkes Knurren hören, was Ansbert zu einem leisen Schmunzeln verleitete. Delãny griff nach dem Messer und dem hölzernen Löffel, die ihm der Wirt neben den Teller gelegt hatte, fing aber noch nicht an zu essen.