»Es wäre barmherziger, ihn von seiner Qual zu befreien«, sagte Krusha. »Aber ich kann es nicht. Er ist nicht wirklich mein Bruder, aber ich liebe ihn, als wäre er es.«
Andrej reagierte nicht auf die Bitte, die sich kaum verhohlen in diesen Worten verbarg, sondern wandte sich schaudernd ab und ging wieder zum Feuer zurück. Sergés Blick folgte seiner Bewegung voller Mißtrauen - vielleicht Feindseligkeit? -, während Krusha weiter dumpf in die erlöschende Glut starrte.
»Ich danke euch«, begann er umständlich. »Ihr habt Frederic und mir wahrscheinlich das Leben gerettet.«
»Nicht wahrscheinlich«, sagte Sergé hart. »Du hattest das Schwert schon an der Kehle.«
»Du hast den Mann angegriffen?« fragte Andrej.
»Bild dir nichts darauf ein«, antwortete Sergé. »Ich habe es nicht deinetwegen getan.« Er starrte Andrej auf eine Weise an, die man kaum anders als haßerfüllt nennen konnte.
»Ich danke dir trotzdem«, sagte Andrej.
»Ich habe ihn getötet«, sagte Sergé hart. »Vielleicht töte ich dich auch noch. Ich hätte es wahrscheinlich schon getan, aber Krusha war dagegen.«
Andrejs Hand glitt fast ohne sein Zutun zum Gürtel, aber das, wonach er suchte, war nicht da.
Sergé lachte leise, griff neben sich und hob Andrejs Sarazenenschwert auf. »Suchst du das, Delãny?« fragte er. »Eine interessante Waffe. Sie muß sehr wertvoll sein. Ich habe solch ein Schwert noch nie zuvor gesehen.« Er zog das Sarazenenschwert bedächtig aus der ledernen Umhüllung und ließ seinen Blick prüfend über die rasiermesserscharfe Klinge gleiten. »Vor allem nicht bei einem Kerl aus Transsilvanien«, fügte er hinzu. Er ließ die Klinge zweimal fast spielerisch durch die Luft sausen und lauschte eine Sekunde lang auf das summende Gerausch, das dabei entstand. Dann richtete er die Waffe mit einer langsamen Bewegung auf Delãny.
Es war Andrej unangenehm, die Waffe in Sergés Hand zu sehen. Er hatte es nie zugelassen, daß irgend jemand außer ihm selbst oder Raqi sein geheiligtes Sarazenenschwert berührte. Trotz seiner Schwäche wäre es ihm ein Leichtes gewesen, Sergé das Schwert zu entringen, aber er beherrschte sich und sagte nur sehr ruhig: »Sei vorsichtig damit. Die Klinge ist sehr scharf.«
»Nenn mir einen triftigen Grund, warum ich sie nicht an deiner Kehle ausprobieren sollte, Andrej Delãny«, sagte Sergé.
»Es wäre dumm«, antwortete Andrej. »Und du machst nicht den Eindruck eines Dummkopfes.«
»Dumm?«
Andrej deutete ein Schulterzucken an. »Ihr habt Frederic und mich mühsam hierher gebracht«, sagte er. »Wozu die Mühe, wenn ihr mich dann doch erschlagen wollt?«
Für die Dauer von zwei, drei Atemzügen starrte ihn Sergé einfach nur an. Dann verzog er die Lippen zu etwas, das vielleicht ein Lächeln sein sollte, möglicherweise aber auch das genaue Gegenteil. »Vielleicht, weil ich dir vorher noch ein paar Fragen stellen will, Delãny«, sagte er.
»Und welche?«
»Die Fremden«, sagte Sergé. »Die Männer, die das Gasthaus angezündet und meine Brüder getötet haben - wer sind sie?«
»Wieso glaubst du, daß ich das weiß?« fragte Andrej ausweichend.
»Weil sie deinetwegen gekommen sind, Delãny«, sagte Sergé zornig. »Du wußtest es.«
Andrej wollte widersprechen, aber er konnte es nicht, Er schwieg lange, dann hob er langsam die Hand und drückte die Klinge hinunter, die Sergé noch immer auf sein Gesicht gerichtet hielt.
»Ich wußte, daß sie Frederic und mich suchen«, gestand er. »Das ist wahr. Aber ich wußte nicht, daß sie so weit gehen würden, das schwöre ich.«
»Ich glaube dir, Delãny«, sagte Sergé. »Aber ich frage mich, was an dir so gefährlich ist, daß sie lieber einen ganzen Gasthof niederbrennen und ein Dutzend Männer töten, statt dich einfach zu überwältigen, wie sie es mit Leichtigkeit hätten tun können. Was bist du, Delãny - ein Zauberer ? Oder der Teufel ?«
»Nichts von beidem«, antwortete Andrej. »Ich verstehe es so wenig wie du. Vielleicht macht es ihnen einfach Spaß, Menschen zu töten.« Er deutete auf Frederic. »Sie haben seine ganze Familie ausgelöscht. Vollkommen grundlos.«
»Wer sind sie?« fragte Sergé. Er hob das Sarazenenschwert erneut, und diesmal fiel es Andrej wirklich schwer, ihm die Waffe nicht einfach zu entreißen.
»Warum willst du das wissen?« fragte er.
»Weil ich sie töten werde«, sagte Sergé hart. »Ich habe einem von ihnen meinen Dolch ins Herz gestoßen, doch sie waren zu dritt. Ich werde sie suchen, und ich werde sie töten, ob mit oder ohne deine Hilfe. Aber mit deiner Hilfe geht es schneller.«
Krusha hob die Hand und drückte Sergés Arm herunter, der das Sarazenenschwert hielt. »Verzeiht meinem Bruder, Delãny«, sagte er leise. »Der Schmerz trübt seine Sinne.«
Sergé funkelte ihn an. »Er ist es uns schuldig!«
»Halt den Mund, Sergé«, sagte Krusha müde. Er schüttelte den Kopf, seufzte tief und nahm seinem Bruder schließlich die Waffe aus der Hand. Umständlich schob er die Klinge in ihre lederne Scheide zurück und reichte sie dann Andrej.
»Ihr seid uns nichts schuldig, Delãny«, sagte er leise. »Verzeiht meinem Bruder. Nehmt den Jungen und geht, wenn ihr wollt. Wir werden euch nicht aufhalten.«
Andrej nahm sein Schwert entgegen und warf einen sehr langen, nachdenklichen Blick zu Frederic hinüber, ehe er antwortete. »Es tut mir wirklich leid«, sagte er leise. »Ich wollte, ich könnte ungeschehen machen, was geschehen ist. Aber das kann niemand.«
»Und du kannst uns auch nicht helfen, die Männer zu finden«, sagte Sergé verächtlich.
»Vielleicht kann ich es«, antwortete Andrej. Dann verbesserte er sich und sagte: »Ich könnte es. Aber ich würde euch damit einen schlechten Dienst erweisen.«
»Einen noch schlechteren, als du uns schon erwiesen hast?« fragte Sergé verächtlich. »Vranjevc und Ansbert sind tot. Und ich werde für den Rest meines Lebens an diese Nacht erinnert werden.« Er deutete auf sein Gesicht. »Welcher Dienst könnte wohl noch schlechter sein?«
»Ihr könntet ebenfalls sterben«, antwortete Andrej ernst. »Glaub mir, Sergé - mit diesen Männern ist nicht zu spaßen.«
»Mit mir auch nicht«, antwortete Sergé böse. »Einen von ihnen habe ich bereits getötet. Und auch die beiden anderen werden sterben - ob mit oder ohne deine Hilfe!«
Andrej antwortete nicht mehr. Sergé war nicht in der Verfassung, ein vernünftiges Gespräch zu führen. Der Schmerz und der Kummer über den Verlust seiner Brüder hatten ihn fast an den Rand des Wahnsinns getrieben. Und er war ohnehin nicht sehr beherrscht, ganz im Gegensatz zu seinem Bruder Krusha. Trotzdem war Andrej sich nicht sicher, welcher von den beiden vertrauenswürdiger war - wenn überhaupt.
»Es wird bald hell«, sagte Krusha in das immer unbehaglicher werdende Schweigen hinein. »Wir können nicht hierbleiben. Die Familie des Gastwirtes hat in die Stadt um Hilfe geschickt. Sie werden den Wald durchkämmen, um die Mörder zu finden. Vielleicht ist es besser, wenn wir den Soldaten nicht begegnen.«
»Habt ihr einen Grund, ihnen nicht begegnen zu wollen?« fragte Andrej.
»Was interessiert das dich?« fragte Sergé feindselig.
Andrej antwortete auch jetzt nicht sofort. Er fühlte sich schuldig. Es spielte keine Rolle, daß Frederic und er ebenfalls Opfer des heimtückischen Anschlages waren - Vranjevc und die anderen Männer waren nur gestorben, weil sie zufällig in dieses Gasthaus eingekehrt waren ... und weil Andrej so hochmütig und naiv gewesen war, anzunehmen, er könne die drei goldenen Ritter täuschen. Wie hatte er das auch nur eine Sekunde lang wirklich glauben können! Diese Männer hatten im Laufe ihres Lebens wahrscheinlich schon jede Art von Finte, Betrug und Intrige kennengelernt. Sie würden sich wohl kaum von einem Bauerntölpel aus Transsilvanien an der Nase herumführen lassen, nur weil dieser von seinem Stiefvater zu einem hervorragenden Schwertkämpfer ausgebildet worden war.