Andrej atmete erst auf, als sie das verlassene Haus wieder erreicht hatten, ohne einer Stadtwache in die Arme gelaufen zu sein. »Das wirft unsere Pläne erst einmal über den Haufen«, sagte er, nachdem sie in das Haus eingestiegen waren, »aber immerhin dürften wir für heute nacht hier sicher sein. Mach es dir bequem. Ich werde noch mal losziehen, um mich ein bißchen umzuhören. Vielleicht erfahre ich ja noch etwas Wichtiges. Außerdem werde ich versuchen, etwas Eßbares aufzutreiben.« Er fuchtelte mit dem alten, bereits gesprungen Tongefäß vor Frederics Nase herum, das er unter der schmalen Stiege gefunden hatte. »Und damit werde ich dir Wasser holen - damit du mir nicht noch verdurstest!«
»Ich warte doch nicht, bis du die Gnade hast, mir etwas zu trinken zu bringen«, sagte Frederic empört. »Ich bleibe auf keinen Fall allein hier.«
Als Andrej etwas erwidern wollte, fuhr der Junge noch lauter fort: »Ich komme natürlich mit. Ausgeruht habe ich mich vorhin schon. Du tust ja gerade so, als wäre ich ein kleiner Junge!«
Andrej seufzte. Es war Frederic anzuhören, daß es ihm überhaupt nicht behagte, hier allein in dem alten Gemäuer zurückzubleiben. Das war kein Wunder; in dieser für einen transsilvanischen Bauernjungen nicht nur fremden, sondern auch bedrohlichen Umgebung im Dunkeln allein zu sein, mochte für Frederic schon furchterregend genug sein, aber dann auch noch zu wissen, daß die gesamte herzogliche Wache einschließlich ein paar geheimnisvoller goldener Reiter hinter einem her war: das war zuviel.
»Wir müssen jedes unnötige Risiko vermeiden«, sagte er dennoch. »Wenn wir um diese Zeit zu zweit losziehen, fallen wir viel mehr auf, als wenn ich alleine gehe.«
Frederic wollte sich auch damit nicht zufrieden geben, aber schließlich wurde es Andrej zu bunt, und er unterbrach seine weiteren Einwände mit einer ärgerlichen Handbewegung. »Du wirst hier die Stellung halten und damit basta«, entschied er. »Und ich rate dir gut: Komm mir nicht die Quere! Es könnte sonst sein, daß du damit die Befreiung deiner Verwandten von vornherein zunichte machst.«
»Du willst mir drohen?« fragte Frederic gleichermaßen entsetzt wie halsstarrig.
»Ja, ich will dir drohen«, bestätigte Andrej. »Und ich will dir klarmachen, daß nicht du es bist, der hier die Spielregeln bestimmt: Es sind der Herzog, die goldenen Ritter, Vater Domenicus und auch die beiden Spießgesellen, denen wir uns anvertraut haben. Erst ganz zum Schluß kommen wir beide.«
Er drehte sich ohne ein weiters Wort um und verließ das baufällige Haus auf demselben Weg, auf dem sie es betreten hatten. Während er die schmale Gasse entlangschritt, die ihn über mehrere Abzweigungen zu den größeren Straßen bringen würde, versuchte er sich wieder zu beruhigen. Frederic hatte eine Art an sich, die ihm zunehmend auf die Nerven ging. Es gab keine Entscheidung, keine Handlung, die er nicht irgendwie kommentierte oder kritisierte. Dabei war es nicht ungefährlich, zu streiten, solange sie sich in Constãntã befanden. Ein unbedachtes Wort, eine zu laut erhobene Stimme - das konnte nicht nur die Stadtwache auf ihre Spur bringen, sondern sogar über Leben und Tod der gesamten noch lebenden Bevölkerung von Borsã entscheiden.
Wie von selbst war er in Richtung Marktplatz gegangen. Warum er ausgerechnet diesen Weg wählte, hätte er nicht einmal genau zu sagen vermocht. Er genoß es jedenfalls, daß er einmal allein sein konnte, ohne die Begleitung des aufsässigen Jungen, der keine Gelegenheit ausließ, um ihn in Rage zu bringen. Sobald er das alte Tongefäß, das er in der Hand trug, an einem der öffentlichen Brunnen mit Wasser gefüllt hatte, würde er es zurückbringen - um ihm seinen Inhalt bei der nächsten frechen Antwort über den Kopf zu schütten.
Er schlenderte durch die mäßig belebten Gassen - immer auf der Hut vor Uniformen und dem Geklirr von Waffen - und fand sich plötzlich an dem Ort wieder, wo er heute nachmittag dem Mädchen begegnet war. Der Marktplatz bot ihm um diese Zeit ein vollkommen anderes Bild als am hellichten Tag. Der Geruch, der über dem Platz lag, war eine übelriechende Mischung aus Abfällen, Kot, aber auch Obst- und Gemüseresten, wobei letztere durchaus noch eßbar sein konnten - bei ihm führte die Gesamtmischung jedoch erst einmal dazu, daß sich ihm der Magen umdrehte.
Obwohl die Sonne schon fast untergegangen war, herrschte noch reges Treiben auf dem Platz. Einige Marktschreier waren damit beschäftigt, die restlichen Waren für den nächsten Tag in Sicherheit zu bringen, andere machten sich auf den Weg zu ihrer Schlafstatt. Doch nicht wenige hatten es sich neben ihrer Ware auf dem gepflasterten Boden so bequem wie möglich gemacht, wohl um sich gleich früh morgens nicht das erste Geschäft entgehen zu lassen. Andrej vermutete allerdings, daß etliche unter ihnen eine schmale Pritsche in einer Herberge vorgezogen hätten, wenn sie sich diesen Luxus hätten leisten können.
Ob er nun wollte oder nicht: Angesichts der leeren Marktstände fing sein Magen laut zu knurren an. Möglichst unauffällig sah er sich nach etwas Eßbarem um. Wenn er noch etwas hätte kaufen können, hätte er den Großteil der wenigen Geldstücke, die in seiner Tasche klimperten, für ein Stück Brot und etwas Käse geopfert. Doch so blieb ihm nichts anderes übrig, als sich nach einem kostenlosen Nachtmahl umzusehen - etwas, was er unterwegs im Wald oder auf Feldern durchaus gewohnt war, was aber in den Städten wohl nicht ganz so üblich war; schließlich sprossen hier keine Pilze, Beeren oder eßbare Krauter aus dem Boden.
Dennoch hatte er Glück. Inmitten einer schmalen Gasse aus nun leeren Holzwagen stolperte er geradezu über ein paar gelbe Rüben und Kohlrabi, die mit ein paar Holzspänen zusammen weggekehrt worden waren. Sie sahen zwar nicht mehr sehr appetitlich aus, aber zumindest noch genießbar. Er wickelte seine Schätze in einen alten Leinenfetzen, den jemand achtlos fortgeschmissen hatte, und machte sich auf den Weg zu einem kleinen Rondell in der Nähe des Platzes, das ihm durch seine abgeschiedene Lage bereits heute morgen als ein halbwegs brauchbares Versteck aufgefallen war - außerdem befand sich in seiner Mitte ein Brunnen.
Das Bedürfnis, seinen brennenden Durst zu stillen, wurde übermächtig. Ohne seiner Umgebung noch die nötige Aufmerksamkeit zu schenken, hastete er zu dem vollkommen menschenleeren Rondell und trat an den Brunnen heran, um den an einer Kette befestigten Eimer hinabzulassen und Wasser zu schöpfen. Nachdem er seinen ersten Durst gestillt hatte, füllte er das Tongefäß, um noch einmal in Ruhe zu trinken - bevor er mit seinen gesammelten Schätzen wieder zu Frederic zurückkehren und sich seine ewigen Litaneien anhören mußte. Kein schlechtes Nachtmal, dachte er, vielleicht stimmt das den Jungen etwas friedlicher. In diesen Gedanken hinein legte sich fast sanft eine Hand auf seine Schulter.
In einer blitzschnellen Drehung wirbelte Andrej herum und zog zeitgleich sein Sarazenenschwert. Kampfbereit stand er da, auf alles vorbereitet - oder zumindest auf fast alles. Doch als er seinem Gegner in die Augen sah, kam er sich nur noch lächerlich vor.
Es war Maria, eingehüllt in ein weites Cape, die Kapuze so tief ins Gesicht gezogen, daß er sie nur an ihren fröhlich sprühenden Augen erkannte. »Ich ergebe mich«, rief sie gespielt ängstlich. »Glaube mir bitte, ich habe nichts bei mir, womit ich kämpfen könnte.«