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»Ich habe dich gesucht«, flüsterte Maria Andrej zärtlich ins Ohr. »Vom ersten Moment an, als ich dich sah, wußte ich, daß ich dich haben wollte. Ich weiß ja, es ist nicht schicklich, daß ich dir das sage, aber ...«

Weiter kam sie nicht. Andrej verschloß ihre Lippen mit einem Kuß und flüsterte ihr zu: »Mir geht es genauso. Irgend etwas ist mit uns geschehen ... Mir ist, als hättest du mich verzaubert.«

Das Geräusch leiser Schritte war zu vernehmen, und ein siedendheißer Schrecken durchfuhr ihn. Plötzlich wurde er sich wieder bewußt, wo er sich befand. Mit einem entsetzten Ruck stieß er Maria zurück und sprang auf; seine Hand fuhr wie von selbst zum Griff seines Schwertes, und er war auf alles gefaßt: Auf einen Hinterhalt, in den ihn Maria gelockt hatte, auf eine Patrouille der Stadtwache, die durch ihre lustvollen Laute auf sie aufmerksam geworden war, oder auf ein paar grobe Kerle, die zufällig vorbeigekommen waren und sich das Schauspiel zweier Liebender nicht entgehen lassen wollten, die alles um sich herum vergessen hatten.

Es war nichts von alledem.

»Frederic«, stöhnte Andrej gleichermaßen überrascht wie entsetzt, während seine Augen wachsam die Umgebung absuchten nach einem Hinweis, daß der Junge nicht allein wie ein Spukgespenst in der Nacht aufgetaucht war. »Was, um Gottes Willen, machst du denn hier?«

»Ich hatte ... ein Geräusch gehört«, stammelte Frederic.

»Hat dich jemand verfolgt?« fragte Andrej scharf.

»Nein.« Der Junge schüttelte unglücklich den Kopf. »Ich glaube nicht.«

»Hat dich jemand aus unserem Versteck vertrieben?«

Wieder schüttelte der Junge den Kopf. »Ich hatte nur ... Angst.«

Andrej atmete tief ein. Am liebsten hätte er diesen mißratenen Delãny an den Ohren gepackt und sie ihm mit einem kräftigen Ruck vom Kopf gerissen. »Warte dort, im Schatten des Hauses, an der Ecke auf mich«, herrschte er ihn an. »Ich komme gleich nach. Und wehe, du tust dieses eine Mal nicht das, was ich von dir verlange!«

Frederic brachte keinen Ton mehr hervor; offenbar hatte er begriffen, daß er zu weit gegangen war. Mit einem stummen Nicken gab er Andrej zu verstehen, daß er ihn verstanden hatte und tun würde, was von ihm verlangt worden war, wandte sich um und rannte mit schnellen, aber leisen Schritten davon.

Delãny drehte sich wieder zum Brunnen, um Maria die Situation so gut wie möglich zu erklären. Doch dort, wo sie sich gerade noch aneinandergeklammert hatten, lag jetzt nur noch der Leinenbeutel und sein umgekippter Wasserkrug: Sie selbst war verschwunden.

»Verflucht«, murmelte Andrej. Seine Gefühle waren ein einziges Durcheinander. Die sinnesverwirrende Erregung, die ihn noch gerade gepackt gehalten hatte, war einem Gefühl von Verlust und Sehnsucht gewichen. Gerade hatte er ihren lockenden Körper noch unter seinen Händen gespürt, und nun würde er sie vielleicht nie mehr wiedersehen. Zudem war er sich nicht darüber im klaren, wieviel sie noch von dem Gespräch mit Frederic mitbekommen hatte. Wenn er an ihrer Stelle gewesen wäre, würde er sich jetzt eine Menge Fragen stellen - beispielsweise, von welchem Versteck Andrej gesprochen hatte und warum er Angst hatte, daß sein Neffe verfolgt worden sein konnte.

Vielleicht war sie nach Frederics überraschendem Auftauchen aber auch so schnell und erschrocken verschwunden, daß ihr der Sinn von Andrejs schroffen Worten entgangen war. Er konnte es nur hoffen. Andernfalls konnte ihm die junge Frau, die ihn so nachhaltig verwirrt hatte, durchaus gefährlich werden. Ein kleiner Hinweis, den sie ihrem Bruder gab und der das Mißtrauen dieser gewiß hochgestellten Persönlichkeit erregte, mochte schon ausreichen, um eine Hetzjagd auf sie zu veranstalten - sei es, weil man ihn für den Brandstifter hielt oder für einen Auskundschafter der Türken.

10

Andrej konnte lange nicht einschlafen. Immer wieder war er in Gedanken bei Maria, er konnte förmlich den Geruch ihrer Haut riechen und auf dem Rücken überlief ihn ein wohliges Schaudern, bei der Vorstellung, ihre Hände würden ihn streicheln und ihre Fingernägel würden sich sanft in seine Haut graben. Aber da waren auch andere Bilder, die sich dazwischenschoben. Bilder von Leid und Gewalt, von dem brennenden Wirtshaus, in dem sechs unschuldige Menschen den Tod gefunden hatten - nur weil die goldenen Ritter ihn hatten töten wollen. Beide Erinnerungen schoben sich ineinander, so als würden sie zusammengehören, und auf der zerbrechlichen Grenze zwischen Schlaf und Wachen überkam ihn das abstruse Gefühl, daß beides in Zusammenhang stand.

Aber wie sollte das möglich sein?

Erst im Morgengrauen fiel er in einen erlösenden Schlaf. Schon wenig später erwachte er wieder, schweißgebadet und erschöpft. Er benötige ein, zwei Sekunden, bevor ihm bewußt wurde, wo er sich befand. Leise stand er auf, ging zum Fenster hinüber und starrte durch den schmalen Bretterspalt auf die Gasse hinaus. Es herrschte ein für die Tageszeit erstaunlich reges Treiben. Ein paar Seeleute gingen mit ihren geschulterten Seesäcken in die Richtung, die er noch nicht erkundet hatte; wahrscheinlich befand sich dort irgendwo hinter den angrenzenden Häusern eine Abkürzung zum Hafen. Andrej wußte, daß Constãntã seinen Reichtum ausschließlich seiner günstigen Lage am Schwarzen Meer verdankte. Als Venedig des Ostens hatte es eine zentrale Bedeutung - und enge Beziehungen sowohl zu anderen Hafenstädten am Schwarzen Meer als auch am nicht weit entfernten Mittelmeer.

Aber es waren nicht nur Seeleute unterwegs. Ein Händler, der auf einem hölzernen Karren Gemüse vor sich herschob und sich dabei durch ärmlich gekleidete und aufgeregt schnatternde Frauen drängen mußte, transportierte wahrscheinlich gerade frische Ware zum Markt. Nicht weit hinter ihm jagte eine johlende Kinderschar die Gasse entlang. Bei ihrem Anblick fühlte Andrej einen schmerzhaften Stich im Herzen. Auch sein Sohn Marius hätte unter diesen Kindern sein können - oder Frederic, dessen Jugend in dem Moment geendet hatte, als Vater Domenicus und die goldenen Ritter in Borsã eingeritten waren. Sein Blick wanderte zu dem schlafenden Jungen. Wenigstens im Schlaf - er lag zusammengekauert, die Beine fast bis zum Kinn herangezogen, auf der Seite, sein Gesicht ruhte auf den wie zum Beten gefalteten Händen - durfte er Kind sein.

Plötzlich öffnete Frederic seine Augen, sah Andrej überrascht an und fuhr erschrocken hoch. »Oje! Habe ich verschlafen?«

»Nein«, antwortete Andrej. »Kein Grund zur Aufregung. Wir müssen den Tag sowieso irgendwie herumkriegen. Vor den Abendstunden brauchen wir nicht im ›Einäugigen Bären‹ zu sein.«

»Und was tun wir bis dahin?«

»Wir werden uns etwas in der Stadt umsehen«, sagte Delãny. »Aber vorsichtig - und ohne aufzufallen.«

»Und warum bleiben wir nicht hier?« fragte Frederic.

Andrej schüttelte den Kopf. Er hatte über diese Frage lange Zeit nachgedacht. »Wir sollten dieses Quartier nur im Notfall benutzen«, sagte er. »Es könnte sein, daß die Soldaten jedes Haus in der Stadt auf den Kopf stellen. Wenn sie hierherkommen, will ich jedenfalls nicht mehr da sein.«

Sie brachen zügig, aber ohne Hast auf und warteten auf einen günstigen Moment, um unbemerkt aus dem Haus zu schleichen. Andrejs Sinne waren zum Zerreißen gespannt. Er musterte verstohlen jeden Menschen, der ihnen begegnete, und war jederzeit darauf gefaßt, sich zusammen mit Frederic beim Auftauchen einer orangeweißen Uniform schnell und unauffällig zu verdrücken. Und dennoch: Er beschloß, den Stier bei den Hörnern zu packen. Die goldenen Ritter und die Stadtwache würden wohl kaum damit rechnen, daß er offen durch die großen Straßen Constãntãs schritt. Wenn sie ihn tatsächlich suchten, würde sie eher jede verborgene Ecke der Stadt durchkämmen und jedes Schlupfloch auszuräuchern versuchen. Deswegen hatte er auch das verfallene Haus wieder so hergerichtet, wie er es vorgefunden hatte: Wenn die Soldaten es in ihrer Abwesenheit durchsuchten, sollten sie keinen Hinweis auf ihn oder Frederic vorfinden. Nur so war gewährleistet, daß ihnen das Versteck für einen Notfall - oder eine weitere Nacht - noch einmal zur Verfügung stand.