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Es war kein Zufall, daß er den Weg in Richtung Schloß wählte. Wie auch immer die Befreiungsaktion ablaufen würde: Das Schloß spielte dabei eine zentrale Rolle, und es konnte sich durchaus als lebenswichtig erweisen, sich in dem verwinkelten System der zu ihm führenden Gassen und Straßen auszukennen. Also war es nur konsequent, die gesamte Umgebung zu erkunden. Er prägte sich Straßenverläufe und Besonderheiten der Bebauung möglichst genau ein und versuchte selbst dann, vollkommen unbefangen zu wirken, wenn sie an herzoglichen Wachen vorbeikamen.

Immerhin bekamen sie weder goldene Ritter noch die Schergen des Inquisitors zu Gesicht.

»Ich bin sehr gespannt, wie mich unser Informant da hineinschleusen will«, flüsterte Andrej Frederic zu, bevor sie wieder den Weg Richtung Hafen einschlugen.

Es war gar nicht so einfach, in diesem geschäftigen Trubel einer Stadt so zu tun, als würde man dazugehören. »Laß uns lieber wieder zum Marktplatz gehen, da sind mehr Leute, und im Gedränge fallen wir weniger auf«, sagte er, als ihm der Sonnenstand und seine lichtempfindlichen, brennenden Augen verrieten, daß es Mittagszeit sein mußte.

Wie schon am Vortag hatten sie große Mühe, sich durch die Menge zu schieben, ohne sich dabei aus den Augen zu verlieren. Immer wieder wurden sie angerempelt und herumgeschubst. Ein Menschenpulk hatte sich gebildet, als einer der Gemüsestände ins Wackeln kam, den Halt verlor, um schließlich mit einem lauten Krachen umzukippen. Alle wollten etwas von den Köstlichkeiten haben, die nun zu ihren Füßen lagen. Auch Andrej und Frederic bückten sich, doch als sie sahen, daß die Wachen des Herzogs angeritten kamen, um für Ordnung zu sorgen, strebten sie in die andere Richtung davon. Aus sicherer Entfernung beobachteten sie das Geschehen, das in einem ausgewachsenen Streit zwischen dem Gemüsehändler auf der einen Seite und einigen besonders vorwitzigen Marktbesuchern auf der anderen Seite gipfelte - auf welche Seite sich die Wachen schlagen würden, die bereits drohend ihre Schwerter gezogen hatten, war noch nicht abzusehen.

»Wir verschwinden besser«, zischte Andrej. »Bevor wir da auch noch mit reingezogen werden.« Er drehte sich um, um den Marktplatz so schnell wie möglich zu verlassen - und erstarrte mitten in der Bewegung.

Direkt vor ihnen stand Maria.

»Was ... wie kommt Ihr denn hierher?« stotterte er. Tausend Dinge schössen ihm durch den Kopf. Die Ereignisse der letzten Nacht kamen ihm wie ein ferner Traum vor, der sich durch keinen noch so großen Zauber mehr zurückholen lassen würde. Was auch immer geschehen war: Für diese junge Dame aus besserem Haus war er wahrscheinlich nicht viel mehr als ein Spielzeug. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, was sie zu ihrer Verführungsszene getrieben hatte: Nachdem sie sich mit ihrem Stallburschen und Kammerdiener vergnügte hatte, machte sie jetzt Jagd auf fremde, naive Männer, denen sie den Kopf verdrehen konnte.

»Ich habe Euch dort hinten gesehen.« Sie deutete hinter sich auf die zum Schloß führende Straße. »Das heißt, ich hatte gehofft, daß Ihr es seid. Schließlich habe ich doch noch Schulden bei dem jungen Mann hier, und ich bleibe ungern jemandem etwas schuldig: Vor allem, wenn es sich um eine Zuckerstange handelt!«

Verwirrt sah Frederic von einem zum anderen.

»Also gut«, sagte Andrej. »Aber wir haben wirklich ...«

»... nicht viel Zeit, ich weiß«, führte Maria seinen Satz zu Ende. »Ich übrigens auch nicht. Mein Bruder wartet sicher schon auf mich. Also kommt.«

Sie ergriff Frederics Hand und lief so schnell los, daß sie den Jungen im ersten Moment beinahe hinter sich her zerrte, ehe er den gleichen Rhythmus fand wie sie. Andrej schloß sich den beiden an und ließ seinen Blick aufmerksam von rechts nach links und wieder zurück schweifen. Mit Ausnahme der immer noch beunruhigend großen Menschenmenge, die sie nun von allen Richtungen umgab, bemerkte er jedoch nichts Außergewöhnliches. Trotzdem fragte er sich einen Moment lang ernsthaft, ob er eigentlich den Verstand verloren hatte. Wahrscheinlich bestand kein Grund, Maria gegenüber mißtrauisch zu sein - aber andererseits konnte er sich des merkwürdigen Gefühls nicht erwehren, daß sie ihm etwas äußerst Wichtiges verschwieg. Konnte es sein, daß jemand sie auf ihn angesetzt hatte mit dem Ziel, sein Vertrauen zu gewinnen und seine geheimen Pläne zu erforschen?

Er wußte selber, daß er Unsinn dachte, aber er konnte nicht dagegen an. Seine Gefühle dieser jungen Frau gegenüber waren äußerst zwiespältig. Auf der einen Seite fühlte er sich auf eine Art und Weise von ihr angezogen, die ihn geradezu hilflos machte und seine Hände allein schon bei dem Gedanken erzittern ließen, sie wieder zu berühren. Auf der anderen Seite konnte er ihrem allzu forschen und selbstsicheren Auftreten nichts abgewinnen. Sie war ... äußerst ungewöhnlich und von einer geradezu erschreckenden Offenheit, wie er sie zuvor bei noch keiner Frau kennengelernt hatte - nicht einmal im entferntesten. Vielleicht war sie die Tochter eines reichen Adligen oder die Frau eines Ritters, der als Gast auf dem Schloß weilte. Aber so, wie die Dinge lagen, durften sie einfach niemandem trauen - ganz abgesehen davon, daß sie kaum noch genug Zeit hatten, pünktlich zu ihrer Verabredung zu kommen. Aber wenn er es schon nicht für sich selbst tat: Vielleicht war er Frederic diese wenigen kostbaren Minuten einfach schuldig.

Sie überquerten den Marktplatz, wobei Maria trotz des Gedränges ein so scharfes Tempo vorlegte, daß Andrej Mühe hatte, mit Frederic und ihr Schritt zu halten. Schließlich erreichten sie einen Stand, an dem außer Obst und frischem Gemüse auch Zuckerstangen und andere Leckereien feilgeboten wurden. Maria bedeutete Frederic, sich etwas auszusuchen, und der Junge traf sorgsam und mit großem Bedacht seine Wahl.

Andrej konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als er den seligen Ausdruck auf dem Gesicht seines Schützlings sah. Frederics Hände zitterten ganz leicht, und er wirkte so angespannt wie ein Goldschmied, der Edelsteine für ein besonders kostbares Geschmeide auswählt. Schließlich nahm er aber genau das, was die junge Frau ihm von Anfang an in Aussicht gestellt hatte: eine Zuckerstange.

Maria drehte sich zu Andrej um und lächelte. Sie war unglaublich schön und wirkte plötzlich nicht nur viel jünger als wenige Augenblicke zuvor, sondern so verheißungsvoll, daß Andrej keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Und sie schien an diesem schmutzigen, lauten Ort so fehl am Platze zu sein, wie man sich das nur vorstellen konnte. Obwohl Andrej nicht anders konnte, als sie hingerissen anzustarren, fiel ihm auf, daß sie keine Anstalten machte, die Zuckerstange zu bezahlen. Der Verkäufer schien das ganz selbstverständlich zu finden. Andrej nicht. Aber er weigerte sich in diesem Moment, darüber nachzudenken.

»Nun, Andrej«, fragte sie sanft, »ist dieses Lächeln nicht ein paar Augenblicke wert?«

Anfangs kamen Delãny diese Worte fast lächerlich vor. Wie Maria so dastand mit ihrem fröhlichen Lächeln, beschienen vom hellen Sonnenlicht, das Funken in ihr dunkles Haar zauberte, erschien sie ihm selbst kaum älter als der Junge. Allein ihr unbeschwertes Lachen ließ sein Herz höher schlagen, und ihre Fröhlichkeit konnte dem Jungen nur guttun - und doch war etwas an ihr, daß ihn beinahe ängstigte. Das Gefühl, daß sie ein dunkles Geheimnis umgab, wurde übermächtig.

»Ja«, gab er dennoch achselzuckend zu und wich ihrem Blick aus. Andrej fühlte sich befangen, fast verlegen, und daß er aus dem Zwiespalt seiner Gefühle nicht herausfand, verschlimmerte diesen Zustand noch.