Nachdem er die morschen Türbretter beiseite gezogen hatte, schob er Frederic unsanft hindurch und gab ihm einen Stoß, der ihn regelrecht in den Raum purzeln ließ. Wie auch beim letzten Mal empfing sie staubiges Zwielicht und ein süßliche Gestank, der ihn fast zum Würgen brachte. Doch das war ihm im Moment vollkommen egal. Die Ruine erschien ihm ganz im Gegenteil wie ein altvertrauter, guter Freund, der ihnen in einer verzweifelten Situation uneigennützig zur Seite stand.
Er zog die morsche Tür hinter sich zu, eilte durch den Raum zu dem grob zugenagelten Fenster an der gegenüberliegenden Wand, von dem er wußte, daß es ihm einen Überblick über die Straße gestatten würde, und spähte durch die Lücke zwischen zwei Brettern hindurch. Es waren hier nur wenige Menschen unterwegs, und sie schienen so mit sich selbst beschäftigt zu sein, daß sie ihrer Umgebung kaum Aufmerksamkeit schenkten. Andrej konnte nur hoffen, daß sich keiner von ihnen Gedanken über zwei auffällige Fremde machte, die sich hier heimlich Zugang verschafft hatten.
Langsam drehte er sich zu Frederic um. Der Junge hatte einen Streifen aus dem Saum seines Gewands gerissen und versuchte ungeschickt, sich selbst einen Verband anzulegen. Soweit Andrej erkennen konnte, blutete die harmlose Schnittwunde schon längst nicht mehr, aber vielleicht dachte Frederic ja ebenso wie er - daß diese eigentümliche Verletzung nämlich ein unverwechselbares Stigma war, anhand dessen man sie leicht identifizieren konnte. Er sah seinem Schützling eine geraume Weile dabei zu, wie er ungeschickt und erfolglos versuchte, den viel zu steifen Stoff hinter seinem Nacken zu verknoten; dann streckte er die Hand aus.
Als Frederic näherkam, um sich helfen zu lassen, versetzte Andrej ihm eine Ohrfeige, die den Jungen zu Boden schleuderte. Frederic gab keinen Laut von sich, sondern blieb zwei oder drei Sekunden lang reglos liegen, ehe er sich benommen aufrichtete. Der improvisierte Verband war seinen Fingern entglitten. Statt dessen preßte er die Rechte gegen seine Wange, auf der Andrej trotz des Zwielichts in diesem düsteren Raum einen deutlichen roten Abdruck erkennen konnte. Ihm wurde klar, daß er viel fester als beabsichtigt zugeschlagen haben mußte.
Streng genommen hatte er den Jungen überhaupt nicht schlagen wollen - es war einfach so geschehen. Aber so sehr er auch danach suchte, es fand sich keine Spur von Bedauern in ihm. Ganz im Gegenteiclass="underline" Er mußte sich plötzlich beherrschen, nicht über Frederic herzufallen und ihn windelweich zu prügeln.
»Warum ... hast du das getan?« murmelte Frederic. Seine Augen schimmerten plötzlich feucht, aber seine Stimme klang nicht im entferntesten weinerlich. Ihr leichtes Zittern und die Tränen in den Augen des Jungen hatten nur einen Grund: Wut.
»Danke Gott, daß du nicht zehn Jahre älter bist«, sagte Andrej kalt. »Sonst würde ich dich jetzt vielleicht töten.«
Er erschrak, als er den Klang seiner eigenen Stimme hörte. Nicht nur die Kälte darin erschreckte ihn, sondern noch mehr die Erkenntnis, daß er diese Worte vollkommen ernst meinte.
Frederic starrte ihn fassungslos an. Das feuchte Schimmern in seinen Augen versiegte so rasch, wie es gekommen war. Nach einer Weile nahm er die Hand herunter, tastete ohne hinzusehen nach seinem Stoffstreifen und stand vom Boden auf, als er ihn gefunden hatte.
»Verrätst du mir auch, warum?« fragte er in einem Ton, als interessiere ihn die Antwort nicht im geringsten.
»Das fragst du wirklich?« Andrej mußte sich zusammennehmen, ihn nicht erneut zu schlagen oder anzubrüllen. »Hast du denn gar nichts von all dem verstanden, was ich dir beigebracht habe?«
»Nein.« Frederic verknotete den Stoffstreifen auf eine Art in seinem Nacken, die ihm eigentlich den Atem abschnüren mußte. Er funkelte Andrej an. »Ich habe es nicht verstanden. Und ich glaube, ich will es auch nicht verstehen. Weißt du, es fällt mir nämlich schwer, Worte von Frieden und Sanftmut aus dem Mund eines Mannes zu hören, der so zu kämpfen versteht wie du - und auch noch an ihre Ernsthaftigkeit zu glauben!«
»Du hast nichts verstanden«, sagte Andrej traurig.
»Wie auch?!« Andrej registrierte mit einiger Verblüffung, daß es plötzlich Frederic war, der ihn anschrie. »Wie kann ich Worte von Frieden und Vergebung aus deinem Munde glauben, wenn du wie der Teufel selbst kämpft? Du hättest sie alle sechs töten können, nicht wahr? Ohne dich auch nur anzustrengen!«
»Nein«, sagte Andrej ruhig. »Am Ende hätten sie mich erwischt. Aber ich hätte einige von ihnen mitgenommen.«
»Wie lange hast du gebraucht, bis du so mit dem Schwert umgehen konntest?« gab Frederic herausfordernd zurück. »Zehn Jahre? Zwanzig? Die Hälfte deines Lebens? Oder mehr? Du hast den größten Teil deiner Lebenszeit damit zugebracht, das Töten zu lernen!«
»Ich habe das Kämpfen gelernt«, antwortete Andrej, »nicht das Töten.«
Verwirrt stellte er plötzlich fest, daß er nicht mehr antwortete, sondern sich verteidigte. Das war so ziemlich das letzte, womit er gerechnet hatte, aber plötzlich sah er sich in die Defensive gedrängt - von einem Halbwüchsigen!
»Das ist natürlich ein gewaltiger Unterschied«, bemerkte Frederic hämisch. »Wie viele Männer hast du in deinem Leben schon getötet, Andrej? Hundert? Zweihundert?«
»Sechs ... Und den ersten, um dein Leben zu retten.« So wie alle anderen auch, fügte Andrej in Gedanken hinzu. Aber es hätte nichts genutzt, es laut auszusprechen. Frederic hätte mit Sicherheit auch den Sinn dieser Worte nicht verstanden. Aber wenn er sie ausgesprochen hätte, hätten womöglich Andrejs eigene Gedanken einen Weg eingeschlagen, den er nicht beschreiten wollte.
»Ich glaube dir nicht.« Frederic schien doch ein wenig verunsichert zu sein. »Ich ... ich habe gesehen, wozu du fähig bist!«
Andrej schloß die Augen und atmete tief durch, ehe er antwortete. Seine Gefühle waren in Aufruhr. Er mußte achtgeben, nicht Dinge zu sagen oder auch nur zu denken, die er vielleicht später bereuen würde.
»Ich habe nie einen Menschen getötet, und ich werde nie einen Menschen töten, außer um mein Leben oder das eines anderen zu retten«, sagte er ruhig. »Du hast in einem Punkt recht, Frederic: Ich habe viele Jahre meines Lebens damit verbracht, den Schwertkampf zu erlernen. Und ich hatte den besten Lehrer, den es jemals auf dieser Welt gegeben hat. Doch er hat mich nicht nur gelehrt, mit dem Schwert umzugehen; er hat mich noch etwas anderes gelehrt ... etwas viel Wichtigeres: Ehrfurcht.«
»Vor wem?«
»Vor dem Leben, Frederic. Dem einzigen Gut, das auf dieser Welt überhaupt irgendeinen Wert hat. Niemand hat das Recht, ein Menschenleben einfach so auszulöschen. Ich nicht, und du auch nicht.«
»Aber Vater Domenicus«, erwiderte Frederic spöttisch. »Wie konnte ich das nur vergessen! Er handelt ja in Gottes Namen! Warum hast du Barak das nicht gesagt? Ich bin sicher, er hätte die zwei Tage genossen, die dieses ... Vieh ihn hat foltern lassen!«
Der Haß, der in Frederics Stimme zitterte, ließ Andrej erschauern. Es war nicht richtig, daß ein Kind einen solchen Haß empfand.
»Ich weiß nicht, ob es einen Gott gibt«, fuhr der Junge leise fort. »Aber wenn, dann handeln Männer wie Domenicus nicht in seinem Namen. Sie behaupten es, aber es ist nicht wahr ... Er hatte den Tod verdient!«
»Er hatte mein Wort«, antwortete Andrej. »Du hast mich entehrt, indem du es gebrochen hast.«