Frederic verdrehte die Augen, aber Andrej schnitt ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab. Er hatte endgültig begriffen, daß Frederic nicht verstehen wollte, was er ihm zu sagen versuchte. Und vielleicht hatte der Junge ja sogar recht. Vielleicht war er, Andrej, derjenige, der sich irrte, vielleicht war die alttestamentarische Vorstellung von Rache und blutiger Vergeltung, die Frederics Handeln und Denken bestimmte, die richtige Reaktion auf das, was im Tal und im Wehrturm von Borsã geschehen war. So oder so: Andrej wollte nicht darüber nachdenken und änderte seine Taktik.
»Dir ist anscheinend nicht klar, was du getan hast«, fuhr er fort.
»Ich habe einen Mann getötet, der es verdient hat«, antwortete Frederic trotzig. »Du warst ja zu feige dazu!«
»Du hast mehr als das getan«, sagte Andrej ernst. »Wir haben jetzt praktisch keine Chance mehr, die Menschen aus deinem Dorf zu befreien. Falls sie überhaupt noch am Leben sind.«
Diesmal erschrak Frederic wirklich. »Was ... soll das heißen?« fragte er stockend.
Andrej lachte bitter. »Du weißt es nicht besser«, bemerkte er leise. »Woher auch? Aber das alles ist nicht so leicht zu erklären, wie du denkst. Du hast mich gefragt, wie lange ich gebraucht habe, um das Kämpfen zu lernen. Lange. Viel länger, als selbst Ritter mit ihren Waffen trainieren. Aber es ist nicht damit getan, ein Schwert führen zu können.«
Er zog das Sarazenenschwert, drehte die Waffe herum und hielt Frederic den geschliffenen Elfenbeingriff hin. »Du willst es lernen?« fragte er. »Nimm es. Es dauert ein Jahr, bis du gut bist, und zwei, bis du mich fordern kannst. Aber das ist längst nicht alles. Es ist nicht einmal das Wichtigste. Es gibt Regeln, Frederic: Man bricht sein Wort nicht; nicht einmal seinem Todfeind gegenüber. Ja, gerade einem Feind gegenüber bricht man es nicht.«
Frederic betrachtete die Waffe auf eine Art, die Andrej schaudern ließ. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob die Saat der Gewalt in dem Jungen nicht schon längst aufgegangen war. Und schlimmer noch: Was, wenn die Ereignisse der letzten Tage nur Beschleuniger einer gefährlichen Veranlagung gewesen waren? Wenn dieser Junge einfach böse war; noch ein Kind zwar, das jedoch schon den Keim in sich trug, zu einem Menschen herangewachsen, der vielleicht auf andere Weise ebenso grausam und gnadenlos wie Domenicus oder der goldene Ritter in dessen Gefolge war?
Andrej wußte buchstäblich nichts über Frederic, kaum mehr als seinen Namen. In seinem Bemühen, möglichst wenig von seiner eigenen Geschichte und vor allem von seinen Familienbanden preiszugeben, war er jedem Gespräch ausgewichen, das über allgemeine Fragen hinausging.
Frederic zog die Hand zurück, und Andrej steckte das Sarazenenschwert mit einem erleichterten Seufzen wieder ein. Er wußte nicht, was er getan hätte, hätte der Junge nach der Waffe gegriffen.
»Es ist im Grunde nichts anderes als ein Spiel«, knüpfte er an das unterbrochene Gespräch an, leiser und in ruhigem, fast resigniertem Ton. »Es gibt Regeln, Frederic. Man gibt sein Wort, und man hält es, ganz gleich, was geschieht. Indem du Domenicus getötet hast, hast du Malthus und den anderen einen Freibrief gegeben, zu tun und zu lassen, was immer sie wollen.«
»Das tun sie doch ohnehin!« entgegnete Frederic zornig.
»Nicht so«, beharrte Andrej. Aber er spürte selbst, daß er nicht in der Lage war, dem Jungen zu erklären, was er wirklich meinte. Trotzdem fuhr er fort: »Sie werden Rache nehmen, Frederic. Vielleicht werden sie einige von deinen Leuten töten. Vielleicht alle. Und wenn wir ihnen das nächste Mal gegenüberstehen, dann wird es kein Verhandeln mehr geben.«
»Dann töte ich sie ebenfalls!«
Andrej resignierte. Es war sinnlos. Frederic konnte oder wollte nicht verstehen, was er ihm zu vermitteln versuchte. Für einen Moment hatte Andrej fast Angst vor diesem Kind.
Da er nicht wollte, daß Frederic dieses Gefühl in seinen Augen las, drehte er sich mit einem Ruck herum und trat wieder ans Fenster. Seine Gefühle waren in Aufruhr. Er hatte die Wahrheit gesagt, als er behauptete, niemals zuvor einen Menschen getötet zu haben, und er hatte mehr als die Wahrheit gesagt, als er behauptete, daß es ein schreckliches Erlebnis gewesen war. Er hatte sein Leben, beziehungsweise das Frederics, verteidigt, und das konnte er verantworten. Aber trotzdem wusch es nicht das Blut von seinen Händen.
Das Treiben draußen auf der Straße hatte sich inzwischen verändert. Die Menschen hasteten nicht mehr herum, sondern standen in kleinen Gruppen beieinander und redeten erregt über das, was sie gehört oder vielleicht sogar gesehen hatten. Der Lärm vom Marktplatz her hatte sich gelegt, aber über der ganzen Stadt schien nun eine Atmosphäre beinahe greifbarer Spannung zu liegen.
Frederic hatte viel mehr getan, als einen Mann zu töten. Er hatte einen Inquisitor umgebracht, einen Kirchenfürsten, der noch dazu Gast des Herzogs gewesen war. Andrej wußte nicht viel über die Macht und den Einfluß, die die Kirche in diesem Teil des Landes besaß, aber sie konnten nicht gering sein, sonst hätte Domenicus niemals so auftreten können, wie er es Andrej gegenüber getan hatte. Der Herzog mußte nun auf diese Herausforderung reagieren, ob er wollte oder nicht - gerade auch angesichts der Türken, die womöglich schon für einen Angriff auf Constãntã rüsteten. In solch einer prekären Lage konnte sich der Herzog nicht die geringste Schwäche leisten.
Andrej hörte, wie sich Frederic von ihm entfernte und die morsche Treppe ins obere Geschoß hinaufstieg, aber er sah ihm nicht nach. Einen Augenblick lang wünschte er sich, alles ungeschehen machen zu können, die Zeit zurückzudrehen bis zu jenem Punkt, als er - Jahre nach seiner Vertreibung - ins Borsã-Tal zurückgekehrt war. Im nachhinein betrachtet schien ihm jeder Schritt, den er seither getan hatte, jedes Wort, das er seither gesprochen hatte, falsch gewesen zu sein.
Kurz darauf erregte eine Bewegung auf der Straße seine Aufmerksamkeit. Zwei Soldaten in den Farben des Herzogs näherten sich mit schnellen Schritten dem Haus. Zwischen ihnen bewegte sich eine Gestalt in dunkelgrünem Samt. Die drei schritten in scharfem Tempo auf der gegenüberliegenden Straßenseite dahin, und die Menschen traten hastig zur Seite, um ihnen Platz zu machen.
Als sie genau gegenüber seinem Versteck waren, drehte Maria den Kopf und sah ihn an.
Andrejs Herz raste wie wild.
Natürlich sah die junge Frau nicht direkt ihn an - es war völlig unmöglich, daß sie ihn wirklich sah oder auch nur ahnte, daß er hier war.
Tatsächlich verlangsamte sie nicht einmal ihren Schritt, sondern eilte, ohne zu zögern, weiter, und doch glaubte Andrej für einen Moment den Blick ihrer dunklen Augen wie die Berührung einer unsichtbaren Hand auf seinem Gesicht gespürt zu haben.
Selbst über die große Entfernung hinweg konnte er sehen, wie bleich Maria war. Ihr Gesicht war ein einziger weißer Fleck, der selbst vor der gekalkten Wand dahinter noch hell wirkte. Sie preßte ein weißes, blutgetränktes Taschentuch gegen den Hals, und in der anderen Hand hielt sie etwas, von dem Andrej glaubte, daß es Domenicus' goldenes Kreuz war. Ihr kostbares Kleid war mit häßlichen, eingetrockneten Flecken übersät ... dem Blut ihres toten Bruders.
Maria blickte weiterhin nachdenklich zum Haus hinüber - Andrej war sicher, daß sie das Fenster ansah, hinter dem er stand - und wandte ihre Aufmerksamkeit erst wieder nach vorne, als sie das Gebäude schon längst passiert hatten. Andrej schaute ihr nach, bis sie aus seinem Gesichtsfeld verschwunden war, und selbst danach stand er noch lange reglos da und starrte ins Leere.
Es verging fast eine halbe Stunde, ehe Frederic die Treppe wieder heruntergepoltert kam. Andrej hatte sich an der Wand unter dem Fenster zu Boden sinken lassen und den Kopf gegen den mürben Stein gelehnt.