Als Frederic nun die schmale Stiege herunterkam, ächzte die altersschwache Konstruktion unter seinem Gewicht. Eine der morschen Stufen löste sich, und eine gewaltige Staubwolke wirbelte hoch, als sie auf den Boden fiel und zerbrach. Andrej blickte auf und sah, daß der Junge nicht mit leeren Händen zurückkam, sondern mehrere unordentlich zusammengeknüllte Kleidungsstücke über dem Arm trug. Es fiel ihm sichtlich schwer, auf den morschen Stufen das Gleichgewicht zu halten.
Andrej erhob sich und ging ihm ein Stück entgegen, machte aber keine Anstalten, ihm zu helfen. »Was hast du da?« fragte er überflüssigerweise.
»Andere Kleider«, antwortete Frederic. »In unseren alten Sachen fallen wir überall auf. Sie suchen doch bestimmt schon nach uns.«
»Woher hast du das?«
»Oben im Haus gefunden«, behauptete Frederic. »In einer alten Kiste.«
Andrej griff wortlos nach einem langen Leinenhemd und roch daran. »Du lügst. Die Sachen sind frisch gewaschen.«
Frederic preßte trotzig die Lippen aufeinander, zuckte aber schließlich mit den Schultern und fügte mit einer Bewegung, die wohl ein Kopfnicken darstellen sollte, hinzu: »Man kann von oben in den benachbarten Hof hinuntersteigen. Die Sachen hingen auf der Leine. Niemand hat mich gesehen. Bestimmt nicht!«
Andrej verschluckte die ärgerliche Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag, und sichtete statt dessen die Kleidungsstücke. Es handelte sich um einfache Hosen, bunte Schärpen und steife Gewänder, die Andrej wohl knapp, dem Jungen dagegen überhaupt nicht passen würden. Trotzdem würden sie in diesen Sachen natürlich viel weniger auffallen als in der blutbesudelten und ihren Häschern nur allzu gut bekannten Kleidung, die sie momentan trugen.
Nachdem sie sich umgezogen hatten, meinte Andrej: »Wir können nicht hierbleiben.«
Frederic krempelte die Ärmel des viel zu großen Gewandes auf und schlang sich die Schärpe um die Hüften, wodurch der zu üppig bemessene Stoff noch mehr als zuvor auftrug. Er wirkte ziemlich lächerlich in dieser Aufmachung. »Wäre es nicht besser, wenn wir hierbleiben, bis es dunkel ist?« fragte er.
»Wahrscheinlich. Aber ich fürchte, unsere Nachbarin wird nicht sehr erbaut sein, wenn sie feststellt, daß ihr jemand die Wäsche von der Leine gestohlen hat. Außerdem müssen wir Krusha und seinen Bruder treffen - jetzt dringender denn je.«
12
Es war ein merkwürdiges Gefühl, zu wissen, daß es nun gleich ernst werden würde. Dabei konnte Delãny nur hoffen, daß der Informant heute im ›Einäugigen Bären‹ auf sie wartete und die Sache tatsächlich ohne weitere Verzögerung über die Bühne ging. Jede Stunde, die sie länger als unbedingt nötig in Constãntã blieben, brachte sie dem Kerker ein Stück näher - aber auf dem direkten Wege und nicht bei dem Versuch, die verbliebenen Dorfbewohner aus Borsã zu retten.
Andrej riß einen gut armlangen Streifen aus dem Gewand, das ihm Krusha geliehen hatte, und wickelte das Sarazenenschwert darin ein. Dann wandte er sich an Frederic.
»Laß mich nach deinem Hals sehen.«
Frederic legte die linke Hand auf den schmutzigen Verband an seinem Hals und wich kopfschüttelnd einen halben Schritt zurück. »Das ist nur ein Kratzer«, wiegelte er ab.
»Aber er muß weh tun.«
»Nicht sehr. Und ich bin nicht aus Zucker.«
Andrej seufzte, beließ es aber dabei. Frederic war viel zu stolz, um zuzugeben, daß er Schmerzen hatte. Nicht sehr vernünftig, aber in Anbetracht seines Alters verständlich. Außerdem war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu diskutieren.
Andrej deutete mit einer müden Kopfbewegung zur Tür: »Gehen wir.«
Um den Patrouillen des Herzogs und den Schergen des Inquisitors nicht in die Arme zu laufen, nahmen sie einen größeren Umweg in Kauf. Zwar gewährte ihnen die Kleidung, die Frederic gestohlen hatte, einen gewissen Schutz: Aber jetzt waren die Männer in Weiß und Orange direkt hinter ihnen her und würden nicht eine Sekunde zögern, sie anzugreifen, wenn sie sie als Mörder von Vater Domenicus erkannten. Hinzu kam, daß Andrej sich zunehmend unsicherer fühlte, je mehr sie sich dem Schloß näherten. Mit großer Wahrscheinlichkeit waren die beiden goldenen Ritter dort, sofern sie sich nicht an der Suche nach den Mördern des Inquisitors beteiligten - was Andrej allerdings bezweifelte -, und vor allem würde Maria auf dem Schloß weilen. Andrej wußte natürlich, wie unsinnig diese Vorstellung war, trotzdem mußte er sich plötzlich mit aller Macht des Gedankens erwehren, daß die junge Frau nur einen zufälligen Blick aus dem Fenster werfen mußte, um ihn zu erkennen und sein Auftauchen unverzüglich den Wachen zu melden.
Natürlich geschah das nicht, dennoch atmete Andrej erleichtert auf, als sie das Schloß - das eigentlich eher einer Trutzburg glich - endlich passiert hatten und in Richtung Hafens abbogen. Er schalt sich in Gedanken einen Narren, der sich benahm, als sei er das allererste Mal in einer gefährlichen Situation; aber tief in seinem Inneren fühlte er den wahren Grund seiner Verunsicherung.
Es war das Mädchen. Er hätte sie niemals so nahe an sich heranlassen dürfen. Maria hatte irgend etwas in ihm geweckt, das er lieber in sich begraben gelassen hätte.
Die Zahl der Patrouillen nahm zu, als sich Andrej und Frederic dem Hafengebiet näherten. Mehrmals mußten sie hastig die Richtung wechseln und in einer schmalen Gasse oder einem Hinterhof Schutz suchen, bis die unmittelbare Gefahr vorüber war. So kam es, daß sie erst zwei Stunden nach dem verabredeten Zeitpunkt den ›Einäugigen Bären‹ erreichten und den einfachen Schankraum betraten.
In ihren zerschlissenen, schlecht sitzenden Kleidern fielen sie in dieser Umgebung kaum auf; und das Schwert, das Andrej unter dem Hemd verborgen trug, war beileibe nicht die einzige Waffe, die in diesem Raum von ihrem Träger griffbereit gehalten wurde. Die Warnung des Torwächters hatte durchaus ihren Sinn gehabt, aber das war nicht das einzige Grund, warum heute die Spannung in der Gaststube fast körperlich spürbar war: Durch den Mord an Vater Domenicus, der wohl von einigen mit der Türkengefahr in Zusammenhang gebracht wurde, drohte das explosive Gemisch aus Alkohol, wilden Spekulationen und Aggressivität jeden Moment hochzugehen. Wenn die Männer hier auch nur eine Sekunde in Erwägung gezogen hätten, daß die gesuchten Täter sich unter sie mischen könnten, wäre ihr Leben wohl keinen Pfifferling mehr wert gewesen. Andrej konnte sich nur zu gut vorstellen, daß der Herzog oder Maria ein beträchtliches Kopfgeld auf sie ausgesetzt hatten, das sich so mancher hier gerne verdienen würde.
Fast widerstrebend bahnten sich Andrej und Frederic einen Weg durch die eng stehenden Tische und Bänke. Die Spelunke war zum Bersten voll. Die Gespräche an den Tischen wurden laut und hitzig geführt, und immer wieder tauchten darin die Worte Mörder und Türken auf. Der Trubel hatte immerhin den Vorteil, daß die zwei Neuankömmlinge kaum eines Blickes gewürdigt wurden.
Wie Andrej vermutet hatten, saßen die beiden Brüder wieder an dem kleinen Tisch in der hintersten Ecke. Sergé verbarg sein Gesicht noch immer hinter seinem auffällig ungeschickt gewickelten Turban, und Krusha unterhielt sich aufgeregt mit einem fremden, wesentlich älteren Mann mit einem verwitterten Gesicht und grauem Haar, dessen schlichte, aber nicht ganz billige Kleidung nicht so recht hierher passen wollte.
Als sich Andrej und Frederic dem Tisch näherten, wurde das Gespräch schlagartig unterbrochen, und alle drei starrten ihnen mit zornigen Augen entgegen. Schweigend sahen sie zu, wie sich die beiden Delãnys auf die freien Stühle setzten.
»Du hast Nerven, Delãny«, zischte Sergé unter seinem Tuch hervor. »Wer bist du, daß du es wagst, hierherzukommen, nach allem, was du angerichtet hast? Bist du dumm oder einfach nur dreist?«
»Vor allem durstig«, antwortete Andrej. »Aus welch anderem Grund sollte ich wohl sonst in ein Gasthaus gehen?«