»Ein unheimlicher Bursche, nicht wahr?« fragte Ják. »Genau wie die beiden anderen. Ich bin froh, wenn sie wieder weg sind.«
»Wer sind sie?« fragte Andrej, während er nun vollends durch die Tür trat, sich aufrichtete und sich in dem düsteren Raum zu orientieren suchte - und sich dabei verzweifelt fragte, warum Ják von insgesamt drei goldenen Rittern gesprochen hatte, wo doch Sergé einen von ihnen bereits getötet hatte. Irgendwie ging die Rechnung nicht auf.
»Sie stehen im Dienste des Inquisitors, aber viel mehr weiß niemand über sie. Ich glaube, nicht einmal der Herzog selbst.« Ják deutete auf eine Tür in der gegenüberliegenden Wand. »Von hier aus müßt Ihr allein weitergehen. Aber Ihr könnt den Weg im Grunde nicht verfehlen. Die Treppe hinauf, bis ins letzte Stockwerk. Das Schlafzimmer des Herzogs liegt ganz am Ende des Ganges.« Er lächelte flüchtig. »Ihr werdet es leicht erkennen. Vor der Tür steht ein bewaffneter Posten. Normalerweise sind es zwei, aber der Herzog hat fast alle seine Männer losgeschickt, um nach Domenicus' Mördern zu suchen.«
»Wie komme ich an ihm vorbei?« fragte Andrej.
Jáks Lächeln wurde noch kälter. »Er darf keine Zeit finden, um Hilfe zu rufen«, sagte er. »Draußen auf dem Wehrgang patrouillieren Männer. Nicht so viele wie sonst, aber ein Mann hört einen Schrei so gut wie fünf, nicht wahr?«
»Ihr verlangt also, daß ich ihn töte«, sagte Andrej grimmig. »Einen Eurer eigenen Männer.«
»Einen Soldaten«, erwiderte Ják achselzuckend. »Wozu sind Soldaten da, wenn nicht zum Sterben? Und wenn Euch Euer Gewissen plagt, Andrej, seht es von diesem Standpunkt aus: Ihr nehmt ein Leben und rettet dafür fünfzig.«
»Was sollte mich daran hindern, diese Rechnung mit Euch auszumachen?« fragte Andrej leise. »Ihr wißt, wo die Gefangenen sind.« Er legte die Hand auf den Gürtel.
Ják lächelte zynisch. »Laßt Eure Waffe stecken, Delãny«, sagte er. »Ihr wollt wissen, wo die Gefangenen sind? Ich sage es Euch. Wir sind ganz in ihrer Nähe. Der Kerker befindet sich unmittelbar unter unseren Füßen. Ihr müßt nur der Treppe nach unten folgen statt nach oben, um sie zu finden. Ihr könnt den Gestank so wenig ignorieren, wie Ihr das Gejammer überhören werdet. Es sind nicht einmal viele Wachen da. Zwei, vielleicht drei ...« Er zuckte mit den Achseln. »Für einen Mann wie Euch kein Hindernis, nehme ich an. Aber wie wollt Ihr fünfzig Menschen unbemerkt aus dem Schloß bringen, von denen noch dazu die Hälfte krank oder verletzt ist?«
Andrej starrte Ják an, ohne zu antworten. Aber plötzlich spürte er eine Regung in sich, die neu war: Er hatte das Bedürfnis, diesen Mann zu schlagen - nicht um ihn für etwas zu bestrafen oder um eine Information aus ihm herauszupressen, sondern einfach, weil er ihm weh tun wollte.
»Wißt Ihr, Ják«, sagte er nach einer kurzen Pause, in der er versuchte, seine Fassung wiederzugewinnen, »ich kenne Euren Herrn nicht - aber ich bin ziemlich sicher, daß Ihr und er hervorragend zusammenpaßt.«
»Besser, als Ihr ahnt, Delãny. Falls Ihr Mitternacht überlebt, treffen wir uns im ›Einäugigen Bären‹. Dann habt Ihr Zeit genug, mich nach Herzenslust zu beschimpfen.«
Er deutete noch einmal auf die Tür hinter sich, nickte Andrej zu und trat dann wortlos an ihm vorbei auf den Hof hinaus. Einen Augenblick später fiel die Tür zu, und Andrej fand sich in fast vollständiger Dunkelheit wieder. Für einen kürzen Moment war er felsenfest davon überzeugt, daß er in der nächsten Sekunde das Geräusch des Riegels hören würde, mit dem Ják ihn einschloß; dann aber erinnerte er sich, daß der Riegel auf der Innenseite der Tür war. Er war auf dem besten Wege, Gespenster zu sehen. Wenn sein Helfer ihn in eine Falle locken wollte, dann hätte er das schon längst getan.
Andrej streckte den linken Arm aus, ging mit vorsichtigen kleinen Schritten los und erreichte die Tür, die Ják ihm gezeigt hatte. Sie war nicht verschlossen. Als Andrej sie behutsam einen Spaltbreit öffnete, fiel ihm flackerndes, düsteres rotes Licht entgegen. Auf der anderen Seite befand sich die Treppe, von der Ják gesprochen hatte. Sie war viel schmaler, als Andrej angenommen hatte, vermutlich aber nur eine von mehreren, die im Inneren des Donjons in die Höhe führten.
Andrej lauschte. Die mehr als meterdicken Wände des Turmes verschluckten jeden Laut von außen, aber das bedeutete keineswegs, daß es hier drinnen still gewesen wäre. Aus der Tiefe des Treppenschachtes drangen dumpfe, im einzelnen kaum zu identifizierende Laute zu ihm empor. Er gestattete seiner Phantasie nicht, sie mit dem in Verbindung zu bringen, was Ják ihm vor wenigen Minuten berichtet hatte; das hätte ihn womöglich stärker von seiner Aufgabe abgelenkt, als er es sich erlauben durfte.
Schnell, aber ohne zu rennen, bewegte er sich die Treppe hinauf. Auch von oben drangen ihm Geräusche entgegen, die aber eindeutig natürlichen Ursprungs waren: Das an- und abschwellende Heulen, mit dem der Wind durch die steinernen Zinnen des Turmes fuhr, manchmal ein Knistern und Ächzen, das die uralten Balken und mächtigen Steinquader des gewaltigen Gebäudes von sich gaben. Diese Art von Geräuschen erschreckte Andrej nicht, denn er kannte sie. In seiner Kindheit hatte er oft unerlaubt im Wehrturm von Borsã gespielt, einem vielleicht nicht ganz so großen, aber mindestens ebenso alten und kaum weniger wuchtigen Bauwerk.
Er kam nur dann und wann an einer der Fackeln vorbei, die flackerndes, aber nur schwaches Licht sowie Ruß verbreiteten; dazwischen gab es immer wieder große, vollkommen lichtlose Bereiche - und der Weg nach oben schien einfach kein Ende nehmen zu wollen.
Die Treppe endete nach gut zweihundert Stufen vor einer aus massiven Bohlen gefertigten Tür, die zusätzlich mit schweren Eisenbändern verstärkt war. Das Holz war so alt, daß es sich wie Stein anfühlte, und obwohl die Tür nicht verschlossen war, kostete es Andrej enorme Anstrengung, sie weit genug aufzuschieben, um durch den Spalt hindurchschlüpfen zu können. Der Riegel auf der anderen Seite war so massiv, daß er wahrscheinlich dem Ansturm von hundert tobenden Stieren standgehalten hätte. Ják hatte mit seiner Bemerkung, der Herzog lege großen Wert auf Sicherheit, nicht übertrieben.
Nachdem er sich durch den Spalt gequetscht hatte, schob Andrej die Tür wieder sorgfältig zu und sah sich aufmerksam um. Er befand sich in einer schmalen Nische, die auf einen weitaus breiteren und besser beleuchteten Gang hinausführte. Die Treppe, über die er heraufgekommen war, stellte vermutlich nicht den offiziellen Aufgang dar, sondern war möglicherweise ein geheimer Fluchtweg für den - unwahrscheinlichen - Fall, daß der Turm doch einmal gestürmt wurde. Der Herzog hatte wirklich an alles gedacht.
Andrej schob sich behutsam vor und lugte um die Ecke. Wie Ják gesagt hatte, endete der Gang nach zehn oder fünfzehn Schritten vor einer geschlossenen Tür, die von einem Soldaten in den Farben des Herzogs bewacht wurde. Es wäre geschmeichelt gewesen zu sagen, daß der Mann seine Aufgabe nicht ernst nahm. Er stand, halb auf seinen Speer gestützt, halb gegen die Wand gelehnt, da und schnarchte so laut, daß Andrej dies selbst von seinem Versteck aus deutlich hören konnte. Andrej warf einen raschen, sichernden Blick in die andere Richtung, um sich zu vergewissern, daß Jáks Behauptung, es gebe zur Zeit nur diesen einen Wachtposten, zutraf; dann trat er aus der Nische heraus und bewegte sich schnell und nahezu lautlos auf die Tür am Ende des Korridors zu.
Er war vollkommen sicher, keine unvorsichtige oder gar falsche Bewegung gemacht zu haben - trotzdem mußte der Posten etwas gehört haben oder vielleicht auch nur die Nähe eines anderen Menschen gespürt haben. Denn plötzlich fuhr der Mann zusammen und blinzelte erschrocken in Andrejs Richtung. Erschrocken, aber kein bißchen benommen oder müde.