Andrej fuhr erschrocken herum, ließ den Beutel fallen und griff nach seinem Schwert, zog die Waffe jedoch nicht, als er bemerkte, daß Ják hinter einem roten Samtvorhang hervortrat; offenbar mußte sich hinter diesem Vorhang eine Geheimtür verbergen.
»Ják?« murmelte er. Dann verfinsterte sich sein Gesicht. »Seid Ihr verrückt? Was tut Ihr hier? Und wieso ... habt Ihr mir nichts von dieser Geheimtür gesagt?«
Doch sein vermeintlicher Verbündeter reagierte nicht, sondern ging mit raschen Schritten zu dem bewußtlosen Posten und kniete neben ihm nieder. Als er sah, daß der Mann noch am Leben war, runzelte er die Stirn und sagte: »Ihr habt ein zu weiches Herz, Delãny.«
»Ich habe Euch etwas gefragt, Ják«, bemerkte Andrej scharf. »Was tut Ihr hier?« Irgend etwas stimmte nicht.
»Wir müssen unsere Pläne ändern.« Ják deutete mit einer Kopfbewegung auf die beiden Lederbeutel, die zu Andrej s Füßen lagen. »Werft sie bitte nicht auch noch hinaus! Es wäre doch zu schade, wenn ihr Inhalt irgendwie zu Schaden käme, oder?«
»Ják, verdammt!« schnappte Andrej. Er trat einen Schritt auf den Grauhaarigen zu, blieb dann aber wieder stehen. Seine Gedanken überschlugen sich. Was ging hier vor? Was um alles in der Welt hatte das zu bedeuten?
»Wie gesagt: Wir müssen unsere Pläne ändern - geringfügig.« Ják seufzte und zog einen schmalen Dolch unter seinem Gewand hervor, mit dem er dem bewußtlosen Soldaten die Kehle durchschnitt.
Andrejs Augen weiteten sich. »Was ...?!«
Ják erhob sich, war mit zwei Schritten bei der Tür und zog deren Riegel zurück. Im selben Atemzug fügte er sich mit der Mordwaffe eine fingerlange, heftig blutende Schnittwunde auf dem Rücken seiner linken Hand zu. Dann stieß er die Tür auf und schrie mit lauter Stimme: »Wachen!«
Andrej zog sein Schwert und wollte sich auf ihn stürzen, aber es war schon zu spät. Ják ließ den Dolch fallen, sprang zur Seite und fuchtelte mit seiner verletzten Hand wild in der Luft herum. Der Raum füllte sich so schnell mit Männern in Orange und Weiß, als hätten die Soldaten des Herzogs auf dem Gang nur auf ihren Einsatz gewartet. Und so war es wohl auch! Andrej wich hastig zur Wand zurück und führte einen weit ausholenden, kraftvollen Hieb aus, der zwar keinen seiner Gegner traf, ihm aber wenigstens für einen kurzen Augenblick Luft verschaffte.
Verzweifelt hielt er Ausschau nach einem Fluchtweg - aber es gab keinen. Vom Gang stürmten immer mehr Bewaffnete herein, und Andrej stand jetzt schon annähernd einem Dutzend Männern gegenüber, die ihre Schwerter und Speere auf ihn gerichtet hatten. Er hatte zwar keine Angst davor, gegen mehrere Gegner gleichzeitig zu kämpfen, aber diese Übermacht war selbst für ihn zu groß. Für Bruchteile von Sekunden zögerte er, doch dann legte er das Schwert vor sich auf den Boden und hob die Arme. Einer der Soldaten trat auf ihn zu und setzte ihm das Schwert an die Kehle.
»Halt!« rief Ják scharf. »Rührt ihn nicht an! Ich will ihn lebend!«
Der Soldat senkte sein Schwert und trat hastig einen Schritt zurück. »Sehr wohl, Herr«, sagte er.
Andrej blinzelte, starrte Ják an und wiederholte in fragendem Tonfalclass="underline" »Herr?«
»Herr«, bestätigte der Herzog von Constãntã.
14
Draußen mußte längst der nächste Tag angebrochen sein, aber vielleicht war es auch schon wieder Nacht. Andrej hatte keine Möglichkeit, das Verstreichen der Zeit nachzuvollziehen, denn sein Verlies hatte keine Fenster. Seit dieses Gebäude errichtet worden war, hatte die von Menschen willkürlich geschaffene Unterteilung des Tages in Stunden und Minuten in diesem Raum ebenso ihre Gültigkeit verloren wie der ewige Wechsel zwischen Tag und Nacht.
Das einzige Licht, das in unregelmäßigen Abständen Andrejs Kerker ein wenig erhellte, war ein rußiges rotes Flackern, das durch das vergitterte Fenster in der Tür zu ihm hereindrang. Es war aber nur manchmal da, mal für kurze Augenblicke, mal für Minuten. Andrej hatte es längst aufgegeben, irgendeine Regelmäßigkeit in diesem Aufflackern und Erlöschen erkennen zu wollen; und er hatte es auch aufgegeben, die Zeitspanne zu schätzen, die er schon in diesem Loch verbracht hatte. Sie bewegte sich zwischen vielen Stunden und wenigen Tagen - aber die genaue Zahl dieser Stunden und Tage war ihm inzwisehen gleichgültig geworden. So lange er keine Möglichkeit zur Flucht sah, brauchte er sich auch keine Gedanken darüber zu machen, wie lange er schon in seinem Gefängnis saß.
Und er sah keine Möglichkeit. Andrej bezweifelte, daß Ják Demagyar wußte, wen er hier eingekerkert hatte; doch der Herzog schien auf jeden Fall der Meinung zu sein, daß es sich bei seinem Gefangenen um einen äußerst gefährlichen Mann handelte. Andrej war nicht nur in das tiefste und sicherste Verlies des Schlosses gebracht worden, sondern man hatte ihn zusätzlich noch mit schweren Ketten an Händen und Füßen gefesselt und ihm einen eisernen Kragen angelegt, der durch eine kurze Kette mit einem eisernen Ring in der Wand verbunden war; diese Kette war so kurz, daß Andrej sich weder richtig setzen, geschweige denn aufrecht an die Wand gelehnt stehen konnte. Seine Glieder schmerzten angesichts der unbequemen Lage, und zusätzlich rumorte sein Magen; denn seit er hier unten war, hatte er weder etwas zu essen noch einen Schluck Wasser bekommen.
Plötzlich tauchte in dem rechteckigen, kaum handtellergroßen Fenster in der Tür wieder dieses flackernde rote Licht auf. Diesmal jedoch erlosch es nicht nach wenigen Sekunden, sondern wurde heller; gleichzeitig hörte er Schritte und Geräusche von Menschen, die eindeutig näherkamen. Womöglich ein Scharfrichter, der schon einmal Maß nehmen wollte. Andrej hatte sich schon mehrmals gefragt, auf welche Weise man ihn wohl hinrichten wollte. Das Enthaupten war eine beliebte Methode, aber wenn Vater Domenicus den Herzog vor seinem Tod noch davon überzeugt hatte, daß dieser Delãny ein Hexenmeister war, würde Herzog Demagyar sich gewiß eine langwierigere und schmerzvollere Todesart einfallen lassen. Andrej hatte gehört, daß man Hexen gerne verbrannte - auch eine hübsche Methode, doch bei weitem nicht einmal die grausamste, die er sich vorstellen konnte ...
Andrej verscheuchte diese unangenehmen Gedanken, richtete sich auf, so gut er konnte, und wandte seine Aufmerksamkeit ganz der Tür zu - auch wenn er das Gefühl nicht los wurde, daß die Besucher, die gleich zu ihm hereinkommen würden, wahrscheinlich nicht sehr viel angenehmer als seine Schreckensvisionen waren.
Und Andrej täuschte sich nicht. Ein Schlüssel knarzte im Schloß, und kurz darauf öffnete sich die Tür. Er blinzelte und verzog das Gesicht, denn seine an tagelange Dunkelheit gewöhnten Augen wurden von dem grellen Licht einer Fackel gemartert. Zwei, vielleicht drei Gestalten traten in seine Zelle. Im Zwielicht konnte er sie im ersten Moment nur als verschwommene Schemen erkennen. Dann vernahm er eine sehr klare - und sehr zornige - Stimme: »Wer hat das getan?«
Andrej blinzelte die Tränen weg, die das Licht in seine Augen getrieben hatte, und blickte in das Gesicht Ják Demagyars. Die Augen des Herzogs funkelten vor Zorn, aber dieser Zorn galt nicht ihm.
»Ich hatte befohlen, den Gefangenen gut zu behandeln!« rief Demagyar in scharfem Ton. »Jetzt seht ihn euch an! Er ist mehr tot als lebendig! Und er stinkt zum Himmel!«
»Es ... es tut uns leid, Herr«, stammelte einer der beiden Soldaten in seiner Begleitung. »Aber wir dachten...«
»Wenn ich will, daß ihr denkt, dann sage ich es euch!« unterbrach ihn Demagyar. »Jetzt geh, und hol etwas zu essen für diesen Mann! Und Wasser und Seife! Ich will nicht, daß er wie ein Ziegenbock stinkt!«
Der Mann beeilte sich, rückwärts gehend die Zelle zu verlassen, und Andrej hörte, daß er zu rennen begann, kaum daß er draußen war.
Demagyar wandte sich an den zweiten Mann. »Laß uns allein!« befahl er.
Der Soldat zögerte. »Seid Ihr sicher, Herr? Er ... er ist gefährlich.«