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Und doch war es nicht der Anblick dieser neuerlichen Grausamkeit, die Andrej für eine Sekunde regelrecht erstarren ließ.

Es war das Gesicht. Unter all dem Blut und Dreck, unter dem dicht wuchernden Bart und dem tief eingegrabenen, unsäglichen Schmerz verbargen sich Züge, die er ... kannte.

Er war älter geworden, natürlich, aber nicht so alt, wie er hätte sein müssen. Falten und Runzeln bedeckten sein Gesicht, und vielleicht war auch die eine oder andere Narbe neu hinzugekommen. Aber es war, unmöglich oder nicht, ganz eindeutig ...

»Barak?« hauchte Andrej fassungslos. Schon der bloße Klang dieses Namens schien der pure Hohn. Und doch öffnete die sterbende Gestalt beim Klang ihres vertrauten Namens das eine verbliebene Auge, das ihr nicht ausgestochen worden war, und sah zu ihm hin.

»Andrej?«

Es konnte nicht sein, daß er ihn nur am Klang seiner Stimme wiedererkannt hatte, nicht nach so langer Zeit!

Andrej näherte sich langsam dem Bett. Eisige Schauer liefen ihm über den Rücken, als er sah, wie gräßlich sie Barak zugerichtet hatten. Er hatte nicht gewußt, daß ein menschlicher Körper imstande war, solche Qual auszuhalten.

Er trat an das Bett heran und wollte das Schwert zurückstecken, aber Barak schüttelte den Kopf - es schien Andrej das einzige Körperteil, das er überhaupt noch bewegen konnte - und er behielt das Sarazenenschwert in der Hand.

»Endlich«, stöhnte Barak. »Es ist gut... daß du es bist, der gekommen ist... ich habe solange ... gewartet.«

»Gewartet?« wiederholte Andrej verwirrt. »Aber ...«

»Ich habe gehofft, daß jemand ... zurückkehren würde«, flüsterte Barak. »Aber es hat ... so lange ... gedauert. Erlöse ... mich.«

Und endlich verstand Andrej. Ihm war jetzt klar, wieso Barak ihn sofort erkannt hatte: Er mußte darum gefleht haben, daß jemand kam, um ihn zu erlösen. Und er mußte gewußt haben, daß es nur jemand aus seiner Vergangenheit sein konnte, der nicht erschlagen unten in der Eingangshalle lag. Wahrscheinlich waren ihm ständig Gesichter und Namen aus seinem langen Leben durch den Kopf geglitten - auf der Suche nach einem Erlöser seiner Schmerzen.

Er hatte auf ihn oder einen der anderen Dorfbewohner gewartet. Und er hatte Andrej erkannt, weil er ihn für den Tod hielt, der ihn von seiner Qual erlösen würde. War es nur das, was er für alle seine Freunde war? Der Tod?

»Erlöse mich«, murmelte Barak.

Andrej zwang sich, Barak einer genaueren Betrachtung zu unterziehen, und sei es nur aus der völlig unmöglichen Hoffnung heraus, ihn doch noch retten zu können.

Er konnte es nicht. Die Nägel, mit denen sie Barak an das Bett genagelt hatten, waren so dick wie ein Finger und bis ans Heft in seine Hände und das Holz getrieben. Der Zimmermann war nicht sehr behutsam gewesen. Mehrere von Baraks Fingern waren gebrochen. Wenn er versucht hätte, die Nägel herauszuziehen, hätte allein der Schmerz den Mann umgebracht.

Noch schlimmer war die Wunde an seiner Seite. Die Speerspitze war zur Gänze in seinen Leib eingedrungen. Von Michail Nadasdy hatte Andrej eine Menge über die menschliche Anatomie gelernt. Er wagte sich nicht einmal vorzustellen, was der geschliffene Stahl in Baraks Körper angerichtet hatte.

Und er verstand immer weniger, warum Barak überhaupt noch lebte. Es war nicht nur sein Alter, das geradezu unglaublich erschien - er mußte annähernd hundert sein! -, da war noch etwas: Der Überfall auf die Bauernburg war länger her als nur ein paar Stunden, das hatte ihm schon der Leichengeruch draußen in der Halle verraten. Gestern, vielleicht vorgestern war es geschehen.

»Gott im Himmel, Barak, wie lange ... ?«

»Zu lange«, stöhnte Barak. »Erlöse mich, Andrej, ich flehe dich an!«

Andrej zog sein Schwert. Es hätte noch so viel gegeben, was er Barak hätte fragen wollen, so viel, was er wissen mußte. In allererster Linie ging es ihm um das Schicksal seines Sohnes. Und dann um die Frage, wer für das alles hier verantwortlich war, warum es geschehen war - und warum ausgerechnet Barak als einziger noch lebte.

Er stellte nicht eine dieser Fragen. Jede Minute, die er Barak zwang, weiter am Leben zu bleiben, war wie eine Ewigkeit in der Hölle. Er schloß nur noch einmal die Augen und lauschte in sich hinein, suchte nach etwas - der Gewißheit, daß er richtig handelte, wenn er Barak tötete, daß es kein Mord sein würde, sondern eine Erlösung, wie er sie seinem alten Gönner schuldig war.

Das Schicksal hatte Barak einen besonders üblen Streich gespielt. Er verfügte über die fast schon sprichwörtliche Zähigkeit der Delãnys und das unglaubliche Durchhaltevermögen ihrer Familie, das ihn geradezu zwang, sein Leben nicht einmal in dieser verzweifelten Situation einfach aufzugeben. Es war eine erstaunliche Lebenskraft in ihm, die ihn länger hatte leben lassen als all seine Altersgenossen im Dorf und die ihn nun dazu zwang, die Qualen der Hölle Tage zu ertragen statt nur Stunden.

Andrej hob das Sarazenenschwert und stieß Barak die Klinge fast bis ans Heft in die Brust.

Das Leben blieb noch eine einzelne, endlose Sekunde in den Augen des uralten Mannes. Dann brach es. Baraks Kopf sank nach vorn auf seine Brust, und über seine Lippen strömte ein letzter Atemzug wie ein erleichtertes Seufzen.

Andrej senkte das Schwert, und hinter ihm sagte eine Stimme: »Das war sehr tapfer von Euch, Herr.«

Erschrocken fuhr er herum und sah sich einem vielleicht zwölf- oder dreizehnjährigen Knaben mit blassem Gesicht und schulterlangem rötlichen Kraushaar gegenüber.

»Er hat mich angefleht, ihn zu erlösen, und ich ... ich wollte es auch tun. Aber ich hatte nicht den Mut. Ich war feige.«

»Es hat nichts mit Feigheit zu tun, wenn man einen Freund nicht töten kann«, antwortete Andrej. Er senkte sein Schwert. »Wer bist du?«

»Frederic, Herr«, antwortete der Junge. Sein Blick begegnete dem Andrejs offen und vollkommen ohne Scheu. »Frederic Delãny vom Borsã-Tal. Und Ihr?«

Da er sich Barak gegenüber schon als Andrej zu erkennen gegeben hatte, war es wenig sinnvoll, sich nun mit einem anderen Namen vorzustellen. Das hätte das Mißtrauen des Jungen geweckt. »Mein Name ist Andrej Delãny«, antwortete er.

»Delãny?« Die Augen des Jungen leuchteten einen Moment lang auf, aber die Erleichterung machte fast augenblicklich Mißtrauen und durchaus begründeter Vorsicht Platz. »Ich erinnere mich jetzt. Es muß ein paar Jahre her sein, daß ich Euch gesehen habt, wie Ihr im frühen Morgengrauen das Dorf verlassen habt. Ihr habt Marius hierher gebracht, und die Frauen haben sich erzählt, Ihr wärt ein entfernter Verwandter von ihm - aber ein Delãny: Nein, das könnt Ihr nicht sein.«

Delãny schloß einen schmerzhaften Herzschlag lang die Augen. Marius. Er hatte seine Gründe gehabt, seine Vaterschaft nicht an die große Glocke zu hängen. Und es war ihm auch lieber gewesen, daß bis auf ein paar Eingeweihte im Dorf niemand wußte, daß er seinen Sohn weggeben hatte, weil er ihn hier sicherer geglaubt hatte als in den Bergen, in den sich gleichermaßen rätselhafte wie bedrohliche Vorfälle gehäuft hatten - die mit dem Mord an Michail und seiner Mutter geendet hatten. Abgesehen davon brauchte niemand zu wissen, daß er Andrej Delãny war, der Mann, den man mit dem Kirchenraub in Rotthurn in Verbindung brachte.

»Ich ... gehöre zu einem fernen Zweig der Familie. Einem sehr kleinen.« Mit einer Geste auf seinen toten Großonkel fügte er hinzu: »Barak hat mich erkannt.«

Frederic nickte mit nachdenklichem Gesicht. »Barak hat Euch erkannt«, bestätigte er. »Und Ihr habt seinen Namen genannt, als Ihr hereingekommen seid ... Aber das hat doch überhaupt nichts zu bedeuten.«

»Es ist mir nicht wichtig, für wen du mich hältst«, sagte Delãny barsch und voller Unruhe. »Sag mir lieber, wo Marius ist. Ich muß sofort zu ihm.«