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Manchmal ist das Glück ein Geschenk – doch zumeist will es erobert werden. Der magische Augenblick eines Tages hilft uns, etwas zu verändern, läßt uns aufbrechen, um unsere Träume zu verwirklichen.

Wir werden leiden, werden schwierige Momente durchmachen, werden viele Enttäuschungen erleben – doch all dies geht vorüber und hinterläßt keine Spuren. Und später können wir stolz und vertrauensvoll zurückblicken.

Weh dem, der sich davor fürchtet, ein Risiko einzugehen.

Vielleicht wird er nie ernüchtert oder enttäuscht und auch nicht leiden wie jene, die träumen und diesen Träumen folgen. Doch wenn er dann zurückblickt – und wir blicken immer zurück –, wird er hören, wie sein Herz ihm sagt: ›Was hast du aus den Wundern gemacht, die Gott über deine Tage verteilt hat? Was hast du mit den Talenten gemacht, die dir dein Meister anvertraut hat? Du hast sie in einer Grube vergraben, weil du Angst hattest, sie zu verlieren. Und so ist dies nun dein Erbe: die Gewißheit, daß du dein Leben vergeudet hast.‹

Weh dem, der diese Worte hört. Denn nun wird er an Wunder glauben, doch die magischen Augenblicke seines Lebens werden bereits verstrichen sein.

Kaum hatte er geendet, da umringten ihn die Leute. Ich wartete, fragte mich, wie er mich nach so vielen Jahren wohl finden würde. Ich fühlte mich wie ein Kind – unsicher, eifersüchtig, weil ich seine neuen Freunde nicht kannte, unbehaglich, weil er sich mehr um die anderen kümmerte als um mich.

Dann kam er auf mich zu. Er errötete und war nicht mehr der Mann, der wichtige Dinge sagte; er war wieder der kleine Junge, der sich mit mir in der Einsiedelei des heiligen Saturius versteckte, mir von seinem Traum erzählte, die Welt zu bereisen – während unsere Eltern die Polizei alarmierten, weil sie glaubten, wir seien im Fluß ertrunken.

»Hallo Pilar«, sagte er.

Ich küßte ihn auf die Wange. Ich hätte im gratulieren können.

Ich hätte es nicht aushalten können, unter so vielen Leuten zu sein. Ich hätte irgendeinen launigen Kommentar über unsere Kindheit machen können und darüber, wie stolz ich war, ihn von den anderen bewundert zu sehen.

Ich hätte mich mit dem Hinweis, daß ich schnell weg mußte, um den letzten Nachtbus nach Saragossa zu erwischen, aus dem Staube machen können. Ich hätte es tun können. Wir werden die Tragweite dieses Satzes nie ganz ermessen. Denn in jedem Augenblick unseres Lebens gibt es Dinge, die hätten geschehen können und dann doch nicht geschehen sind. Es gibt magische Augenblicke, die unbeachtet verstreichen, aber auch andere, in denen die Hand des Schicksals unvermittelt unser gesamtes Leben verändert.

Ebendies geschah ihn diesem Augenblick. Anstatt all der Dinge, die ich hätte tun können, stellte ich eine Frage, die mich eine Woche später an diesen Fluß brachte und dazu, diese Zeilen zu schreiben.

»Wollen wir einen Kaffee trinken?« fragte ich.

Und er ergriff, indem er sich mir zuwandte, die Hand, die ihm das Schicksal reichte: »Ich muß unbedingt mit dir reden.

Morgen halte ich einen Vortrag in Bilbao. Ich bin mit dem Auto gekommen.«

»Ich muß nach Saragossa zurück«, antwortete ich, ohne zu wissen, daß dies der letzte Fluchtweg war.

Doch im Bruchteil einer Sekunde, vielleicht weil ich wieder zum Kind geworden war, vielleicht weil nicht wir es sind, die die besten Augenblicke in unserem Leben schreiben, sagte ich: »In ein paar Tagen ist der Tag der Unbefleckten Empfängnis Maria.

Da habe ich frei. Ich kann dich nach Bilbao begleiten und von dort aus zurückfahren.«

Eine Bemerkung zum ›Seminaristen‹ lag mir auf der Zunge.

»Wolltest du mich noch etwas fragen?« meinte er, weil er mir das ansah.

»Ja, schon«, versuchte ich abzulenken. »Vor dem Vortrag sagte eine Frau, daß du ihr zurückgibst, was ihr gehört.«

»Das ist unwichtig.«

»Für mich ist es wichtig. Ich weiß nichts über dein Leben, ich war überrascht, so viele Leute hier zu sehen.«

Er lachte und wandte sich den anderen zu.

»Moment mal«, sagte ich und hielt ihn am Arm fest. »Du hast meine Frage nicht beantwortet.«

»Das interessiert dich doch nicht weiter, Pilar.« »So oder so, ich möchte es wissen.«

Er atmete tief durch und führte mich in eine Ecke des Saales.

»Die drei großen monotheistischen Religionen – der jüdische Glaube, das Christentum und der Islam – sind männlich. Die Priester sind Männer. Männer regieren die Dogmen und machen die Gesetze.«

»Und was wollte die Frau sagen?«

Er zögerte etwas. Antwortete aber schließlich doch: »Daß ich die Dinge anders sehe. Daß ich glaube, daß er auch ein weibliches Gesicht hat.«

Ich atmete erleichtert auf; die Frau hatte sich geirrt. Er konnte kein Seminarist sein, denn Seminaristen sehen die Dinge nicht anders.

»Die Erklärung reicht mir«, antwortete ich.

Die junge Frau, die mir zugezwinkert hatte, wartete an der Tür auf mich.

»Ich weiß, daß dich und mich etwas verbindet«, sagte sie. »Ich heiße Brida.«

»Ich weiß nicht, wovon du redest«, antwortete ich.

»Aber natürlich weißt du es«, sagte sie lachend.

Sie packte mich am Arm und zog mich mit sich hinaus, noch bevor ich Zeit hatte, etwas klarzustellen. Die Nacht war sehr kalt, und ich wußte nicht recht, was ich bis zum nächsten Morgen machen sollte.

»Wohin gehen wir?«

»Zur Statue der Göttin«, war ihre Antwort.

»Ich brauche ein preiswertes Hotel, um dort die Nacht zu verbringen.«

»Nachher sage ich dir eins.«

Ich hätte mich lieber in ein Cafe gesetzt, noch etwas geredet, um soviel wie nur möglich über ihn zu erfahren. Doch ich wollte mich nicht mit ihr streiten. Ich ließ mich von ihr über den Paseo de la Castellana führen und schaute mir dabei nach so vielen Jahren einmal wieder Madrid an. Mitten auf dem Boulevard blieb sie stehen und deutete zum Himmel hinauf.

»Da ist der Mond – oder besser die Mondin«, sagte sie.

Der Vollmond schien durch die kahlen Zweige hindurch.

»Er ist schön«, meinte ich.

Doch sie hörte mir nicht zu. Sie breitete, die Handflächen nach oben gewandt, die Arme aus und blieb in die Betrachtung des Mondes versunken stehen.

›Wo bin ich bloß hineingeraten‹, dachte ich. ›Ich kam her, um mir einen Vortrag anzuhören, und jetzt stehe ich mit dieser Verrückten auf dem Paseo de la Castellana, und morgen reise ich nach Bilbao.‹

»Du Spiegel der Göttin Erde«, sagte das junge Mädchen mit geschlossenen Augen. »Lehr uns unsere Macht, mach, daß die Menschen uns verstehen. In deinem Wachsen, deinem Strahlen, deinem Ersterben und Wiederauferstehen hast du uns den Zyklus des Samens und der Frucht gezeigt.«

Die junge Frau reckte die Arme zum Himmel und blieb lange so stehen. Die Passanten schauten sie an und lachten, doch sie bemerkte es nicht, während ich im Boden hätte versinken mögen, weil ich neben ihr stand.

»Ich mußte das einfach tun«, sagte sie, nachdem sie Luna lange gehuldigt hatte. »Die Göttin möge uns beschützen.«

»Wovon redest du eigentlich?«

»Von genau dem, was dein Freund gesagt hat, nur mit wahren Worten.«

Ich bereute nun, den Vortrag nicht aufmerksamer verfolgt zu haben. Ich wußte einfach nicht mehr, was er gesagt hatte.

»Wir kennen das weibliche Antlitz Gottes«, sagte sie, als wir weitergingen. »Wir, die Frauen, die wir die Große Mutter verstehen und lieben. Wir haben unser Wissen mit Verfolgung und Scheiterhaufen bezahlt, doch wir haben überlebt. Und nun begreifen wir ihr Geheimnis.«