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Er weiß noch nicht, daß ich seine Einladung annehmen werde.

Warum will ich dieses Risiko eingehen? Weil ich in diesem Augenblick betrunken bin und das ewig gleiche Einerlei meines Lebens satt habe.

Doch dieser Überdruß wird vergehen. Ich werde bald wieder nach Saragossa zurückkehren wollen, der Stadt, in der ich leben wollte. Mein Studium wartet auf mich, das Examen zur Aufnahme in den öffentlichen Dienst. Mich erwartet ein Ehemann, den ich noch finden muß, und das wird nicht leicht sein.

Mich erwartet ein ruhiges Leben mit Kindern und Enkeln, ohne Schulden und mit Urlaub einmal im Jahr. Ich kenne seine Ängste nicht, doch meine kenne ich wohl. Ich brauche keine neuen Ängste – die, die ich habe, reichen mir schon.

Ich könnte mich niemals in jemanden wie ihn verlieben. Ich kenne ihn viel zu gut, wir haben viel Zeit miteinander verbracht, ich kenne seine Schwächen und seine Ängste. Ich kann ihn nicht so rückhaltlos bewundern wie die anderen.

Ich weiß, daß die Liebe wie ein Staudamm ist: Läßt man nur den geringsten Haarriß zu, durch den das Wasser dann dringt, wird der Damm irgendwann brechen, und niemand wird die Gewalt der Wassermassen kontrollieren können.

Wenn die Wände einstürzen, überschwemmt die Liebe alles.

Dann kommt es nicht mehr darauf an, ob etwas möglich oder unmöglich ist, dann geht es nicht mehr darum, ob wir den geliebten Menschen an unserer Seite halten können – lieben heißt die Kontrolle verlieren.

Nein, ich darf nicht zulassen, daß sich ein Spalt bildet. Auch kein noch so winziger.

»Moment mal!«

Er hörte sofort auf zu singen. Schnelle Schritte hallten auf dem nassen Boden wider.

»Warten Sie!« rief ein Mann. »Ich muß Sie unbedingt sprechen!«

Doch er beschleunigte seinen Schritt.

»Der meint nicht uns«, sagte er. »Laß uns zum Hotel gehen.«

Wir waren aber gemeint: Außer uns war niemand auf der Straße. Mein Herz begann zu jagen, ich war plötzlich ganz nüchtern. Mir fiel ein, daß Bilbao ja im Baskenland lag und es viele terroristische Attentate gab. Die Schritte näherten sich.

»Komm«, sagte er und ging noch schneller.

Doch es war zu spät. Ein Mann stellte sich, naß von Kopf bis Fuß, zwischen uns.

»Halten Sie, bitte!« sagte der Mann. »Um Gottes willen.«

Ich hatte eine Heidenangst, spähte nach einem Fluchtweg, einem Polizeiwagen, der vielleicht gerade wie durch ein Wunder plötzlich auftauchen würde. Instinktiv ergriff ich seinen Arm – doch er löste meine Hände.

»Bitte!« sagte der Mann. »Ich habe erfahren, daß Sie heute in der Stadt sind. Ich brauche Ihre Hilfe. Es geht um mein Kind.«

Der Mann begann zu weinen und kniete nieder.

»Bitte!« sagte er. »Bitte!«

Er atmete tief durch, senkte den Kopf und schloß die Augen.

Während er schwieg, hörte man nur noch das Rauschen des Regens und die Schluchzer des auf dem Fußweg knienden Mannes.

»Geh ins Hotel, Pilar«, sagte er schließlich. »Und schlaf. Ich komme wahrscheinlich erst im Morgengrauen zurück.«

Montag, 6. Dezember 1993

Liebe hat viele Fallstricke. Wenn sie sich uns zeigt, sehen wir nur ihr Licht und nicht ihre Schattenseiten.

»Schau sie dir an, die Welt um uns herum«, sagte er. »Wir sollten uns auf die Erde legen und den Herzschlag des Planeten hören.«

»Später«, sagte ich, »ich kann doch nicht die einzige Jacke schmutzig machen, die ich mithabe.«

Wir wanderten über olivenbaumbestandene Hügel. Nach dem gestrigen Regen in Bilbao war die Morgensonne fast unwirklich.

Ich hatte keine Sonnenbrille dabei – nichts hatte ich dabei, denn ich hatte ja eigentlich noch am selben Tag wieder nach Saragossa zurückfahren wollen. Als Nachthemd mußte ich ein Hemd von ihm ausleihen. In einem Laden gleich an der Ecke beim Hotel kaufte ich ein T-Shirt, um wenigstens das waschen zu können, was ich auf dem Leib hatte.

»Du wirst mich noch satt kriegen, immer in denselben Kleidern«, sagte ich scherzend, um zu sehen, ob mich ein banaler Satz wieder in die Wirklichkeit zurückholte.

»Ich bin glücklich, daß du bei mir bist.«

Er hat nicht wieder von Liebe gesprochen, seit er mir die Medaille gegeben hat, doch er ist gut gelaunt, wirkt wieder wie achtzehn. Er geht neben mir her, wie ich in die Helligkeit dieses Morgens getaucht.

»Und was mußt du dort tun?« fragte ich, indem ich auf die Pyrenäen am Horizont deutete.

»Hinter diesen Bergen liegt Frankreich«, antwortete er lächelnd.

»Ich habe in Geographie aufgepaßt. Ich möchte nur wissen, warum wir dorthin müssen.«

Er schwieg geraume Zeit, lächelte nur.

»Ich möchte dir ein Haus zeigen. Vielleicht interessiert es dich.«

»Wenn du mir ein Haus vermitteln willst, bist du bei mir an der falschen Adresse. Ich habe kein Geld.« Mir war es gleichgültig, ob wir ein Dorf in Navarra besuchten oder nach Frankreich fuhren. Hauptsache, ich verbrachte die Feiertage nicht in Saragossa.

›Siehst du‹, hörte ich meinen Kopf zu meinem Herzen sagen,

›du bist glücklich, daß du das Angebot angenommen hast. Du hast dich verändert und merkst es nicht einmal.‹

Nein, ich habe mich nicht verändert. Ich bin einfach nur entspannter.

»Sieh dir einmal die Steine am Boden an.«

Sie sind abgerundet wie Kiesel am Meer, obwohl das Meer nie bis zu den Feldern von Navarra gereicht hat.

»Die Füße der Arbeiter, der Pilger, der Abenteurer haben diese Steine geformt«, sagt er. »Sie haben sich verändert, und die Wanderer auch.«

»Haben dich die Reisen alles gelehrt, was du weißt?«

»Nein. Es waren die Wunder der Erleuchtung.«

Ich verstehe ihn nicht, will aber auch nicht genauer wissen, was er meint. Ich bin vollgesogen mit Sonne, erfüllt von der Landschaft, den Bergen am Horizont.

»Wohin gehen wir jetzt?« frage ich.

»Nirgendwohin. Wir genießen einfach nur den Morgen, die Sonne, die schöne Landschaft. Wir haben eine lange Autofahrt vor uns.«

Dann zögert er einen Augenblick und fragt dann: »Hast du die Medaille?«

»Ja«, sage ich und gehe schneller. Ich möchte nicht, daß er davon spricht, es könnte die Freude und die Unbeschwertheit dieses Morgens zerstören.

Eine Ortschaft taucht auf. Sie liegt hoch oben auf einem Hügel wie eine mittelalterliche Stadt, und ich kann sogar aus der Entfernung den Kirchturm und eine Burgruine sehen.

»Laß uns dorthin gehen«, bitte ich. Er zögert wieder, willigt jedoch ein. Eine Kapelle liegt am Weg, und ich möchte gern eintreten. Ich kann zwar nicht mehr beten, aber die Stille in den Kirchen beruhigt mich immer.

›Fühl dich nicht schuldig‹, sage ich zu mir selbst. ›Wenn er verliebt ist, ist das seine Sache.‹

Er hat mich nach der Medaille gefragt. Ich weiß, daß er hofft, ich würde auf unser Gespräch im Cafe zurückkommen.

Gleichzeitig fürchtet er zu hören, was er nicht hören möchte, deshalb hakt er nicht nach, läßt das Thema fallen.

Vielleicht liebt er mich ja wirklich. Aber wir werden es schaffen, diese Liebe in etwas anderes zu verwandeln, in etwas Tieferes.

›Lächerlich‹, denke ich bei mir. ›Es gibt nichts Tieferes als die Liebe. In den Märchen küßt die Prinzessin den Frosch, und der verwandelt sich in einen Prinzen. Im wirklichen Leben küßt die Prinzessin den Prinzen, und er verwandelt sich in einen Frosch.‹

Nach etwa einer halben Stunde erreichen wir die Kapelle. Ein alter Mann sitzt auf den Stufen zum Eingang.

Er ist der erste Mensch, den wir seit dem Beginn unserer Wanderung treffen. Denn es ist bereits Herbst, und die Felder sind wieder dem Herrn überlassen, der die Erde segnet und fruchtbar macht, damit der Mensch von ihr im Schweiße seines Angesichts seine Nahrung erntet.

»Guten Tag«, sagt er zu dem Mann.