»Ehe wir dir die Schlinge um den Hals legen und dich an diesem Baume hängen lassen, bis das Leben aus dir gewichen ist, darfst du noch einmal zu uns sprechen, Gregory St. Vincent!« verkündete der Richter.
»Sag nichts! Bettle nicht um dein Leben!« flüsterte Frona dem Delinquenten zu. Er lag unter dem Galgen wie leblos, auf ihren Knien lag sie neben ihm. »Sei tapfer! Das Leben ist nichts, nur Mut gilt!«
Aber bei dem Gedanken, noch einmal sprechen, noch einen Versuch der Verteidigung machen zu dürfen, erkannte der im Innersten Zerbrochene plötzlich, daß das Leben immer noch lockte, daß er unter dieser lachenden Sonne und beim Zwitschern der Rotkehlchen, mitten in diesem Frühlingsgrün nicht sterben konnte. Durch alle Poren drang ihm die Ahnung, daß nichts vorbei war, solange man atmete, und wenn er je in seinem Leben tapfer gewesen, dann wurde er es in dieser Minute.
Er richtete sich auf. In sein schneeweißes Gesicht trat wieder eine Spur von Farbe. Jetzt kauerte er wie ein zu schwer beladenes Lasttier auf allen vieren, jetzt kam er auf die Knie und stützte sich mit beiden Armen auf das Faß, von dem er in den Tod befördert werden sollte.
Anfangs tat er nur den Mund auf, mit verzerrten Lippen, aber kein Ton wollte sich in seiner Kehle bilden. Dann wurde aus dem unartikulierten Keuchen und Heulen eine menschliche Stimme, er formte Worte, und plötzlich stand er aufrecht, nur noch auf die Schultern des Missionars gestützt, und sprach: Worte, richtige Sätze. So gewaltig war sein Wille zum Leben, daß er, die grausige Angst im Genick, dennoch imstande war, ein Bekenntnis zu formen und eine Rede zu halten.
»Ich will mich nicht schonen, ihr Männer«, sagte er. »Ich will alles bekennen, die ganze Wahrheit. Ich bin ein Feigling gewesen, ich habe gelogen, aber auf Feigheit und Lüge steht auch nach euren Gesetzen nicht der Tod. Es sind nicht zwei Männer in John Borgs Hütte gekommen in jener Nacht, es war nur ein Mann.
Borg hatte ihn immer erwartet.
Jede Nacht band er an seine Tür einen Blecheimer. Den nannte er die Mörderfalle. Wenn ein Fremder von außen in die Hütte eintreten wollte, mußte er den Alarm auslösen. Borg schlief immer mit dem Revolver im Gürtel. Aber in seiner letzten Nacht hatte er zuviel Whisky getrunken, denn in seiner steten Angst vor Verfolgern mußte er manchmal Betäubung suchen. Ich wachte auf von leisen Schritten, die um die Hütte schlichen, aber er schnarchte tief. Die Lampe war tief herabgeschraubt. Ich sah Bella an der Tür hantieren; sie hatte den Blecheimer geräuschlos heruntergeholt und beiseite gestellt. Ganz leise ging die Tür auf, und ein Mensch schlich herein. Er kam der Lampe nahe, ich sah sein Gesicht. Es war ein Indianer, und ich werde sein Gesicht nie vergessen. Quer über seiner Stirn, in der Höhe der Augenbrauen, trug er eine breite rote Narbe.
Und wenn ihr mir dreitausend Indianer vorführt, werde ich diesen Mann auf den ersten Blick erkennen!«
»Und was tatest du?«
»Ich tat nichts. Ich lag in meine Decken gewickelt und tat nichts.«
»War der Mann bewaffnet?«
»Er trug ein breites Messer in der Hand und schritt geräuschlos auf Borgs Lager zu. Bella stand da und wies ihm den Weg. Es war kein Zweifel, daß die beiden Mord planten.«
»Und du tatest nichts?«
»Seid doch nicht so sinnlos grausam in euren Fragen!« heulte Gregory. »Könnt ihr denn nicht begreifen, daß es Menschen gibt, die aus Fleisch und Blut sind, nicht aus Stahl und Eisen, wie man es in diesem Lande sein soll?! Natürlich tat ich nichts.was sollte ich denn tun? Ich lag in meinem Schweiß, und mir war, als ob siedendes Öl über meinen Kopf rann. Ich habe mich so gefürchtet, daß ich das Ganze für einen gräßlichen Traum hielt. Ich habe mich so gefürchtet, daß ich dachte, meine Haare werden weiß. Ich habe mich so gefürchtet, daß ich nicht einmal heulen konnte vor Furcht. Ich bin beinahe gestorben vor Furcht. Was fällt euch denn ein? Was wollt ihr von mir? Könnt ihr von einem Menschen verlangen, daß er ein Held ist? Ich bin kein Held. Und das ist mein ganzes Verbrechen.
Dann begann der Kampf im Halbdunkel. Der Indianer stieß mit seinem Messer auf den schnarchenden Borg ein. Aber das Licht war zu schwach, er hatte nicht den Mut gehabt, ihm die Pecken wegzureißen. Borg fuhr auf, er war gleich bei voller Besinnung und fuhr dem Indianer an die Gurgel. Er schnellte sich aus dem Bett und fiel mit seinem ganzen Gewicht auf den Mann. Sie rangen um das Messer, Borg hatte es schon fast an sich gerissen, da biß der Mörder ihm in die Faust. Er bekam die bewaffnete Hand frei und stieß immer wieder zu. Sie wälzten sich gegen Tische und Stühle, daß das Holz zusammenkrachte, und dann fiel der erste Schuß.«
»Und du?«
»Ich wollte mich aufraffen, wollte um Hilfe brüllen oder mit einem Stuhlbein den Mörder erschlagen, aber ich konnte nicht. Wie an Händen und Füßen gefesselt lag ich da, Gott helfe mir! Bella hatte den ersten Schuß abgefeuert, auf Borg, aber er lebte immer noch. Er lebte noch und kämpfte noch, als wenn er drei Leben hätte. Er schrie sogar nach mir >Hilfe! Helft mir doch, St. Vincent!< Aber dann war plötzlich keine Hilfe mehr nötig. Er hatte mit seiner eisernen Faust den Indianer knockout geschlagen, und dann lag Bella plötzlich wieder vor ihm, wie ich es oft gesehen hatte, wie ein Hund, der die Peitsche erwartet. Borg riß ihr den Revolver aus der Hand und schoß zweimal auf den Indianer. Seine Augen waren von strömendem Blut geblendet, er traf ihn nicht. Die Kugeln pfiffen scharf an meinem Kopf vorbei in die Wand. Ihr könnt sie dort noch finden. Ich glaube, er wollte den Indianer und mich zugleich erschießen, aber er verfehlte uns beide. Den dritten Schuß gab er auf Bella ab, und der traf.
Alles andere war so, wie ihr es von den Zeugen hörtet.«
Es entstand eine lange Pause. Kein Mensch wagte zu sprechen, aber wie zum Hohn dieses Lynchgerichtes, wie zum Triumph des Lebens, das nach jedem Grauen und zu jedem Entsetzen dennoch das letzte Wort spricht, schmetterte ein Rotkehlchen aus der Krone des Baumes herab, der eben noch als Galgen dienen sollte.
»Hängt ihn auf! Hängt ihn, daß Schluß wird! So eine feige Bestie hat kein Recht mehr zu leben!« riefen aus der Masse ein paar grimmige Stimmen. Aber die meisten der Männer waren jetzt ganz stumm und beklommen. Gestern noch hätte es ihnen nichts ausgemacht, St. Vincent am Galgen zu sehen. Aber in diese Morgenpracht hinein schien das Bild gräßlich, und zudem war ihnen klar, daß auf ein Versagen der Nerven, selbst auf die erbärmlichste Feigheit, nach keinem menschlichen Gesetz der Tod steht.
In diesem Augenblick lenkte ein großes Floß, das an jedem Ende von einem Steuerruder geführt wurde, in geräuschloser Fahrt in den Kanal ein. Als es der Richtstätte gerade gegenüberlag, wandte das vordere Ende sich dem Ufer zu, eine Leine wurde ans Land geworfen, dann kam mit gewaltigem Satz ein weißer Mann an den Strand, der die Leine ein paarmal um den Galgenbaum schlang.
»Laßt euch nicht stören, Leute!« sagte der Mann, der mit einem Blick die ganze Situation erfaßt hatte. »Wird schon richtig sein, was ihr da macht! Nur haben wir da einen Burschen an Bord, der auch nicht mehr lange zu leben hat. Vielleicht haben ein paar von euch Zeit, sich auch um den zu kümmern?«
Als ob die Goldgräber glücklich gewesen wären, einen anderen Gegenstand für ihre Aufmerksamkeit zu finden, wandten aller Augen sich jetzt dem Floß zu. Auch Jacob Welse, dessen Kopf verbunden war, der aber jetzt frischer und tatkräftiger aussah als am Tage zuvor, folgte den unerwarteten Vorgängen.
»Was habt ihr da für eine Ladung?« fragte er und wies auf einen Haufen Tannenzweige, mit denen das Floß beladen war.
Der andere Floßschiffer trat an die Fracht heran und warf ein paar von den Zweigen beiseite.
»Frisches Elchfleisch, Leute!« rief er mit der Stimme eines Verkäufers auf dem Jahrmarkt. »Ausgezeichnete Ware! Frisches Fleisch, ihr Männer! Wenn wir bis Dawson fahren, reißen sie es uns aus den Händen, für 10 Unzen Goldstaub das Kilo! Aber weil ihr’s seid, und weil man sich den Weg nach Dawson auch sparen möchte, sollt ihr es billiger haben!«