Vor zwanzig Jahren war ihm ein Magentumor entfernt worden. Der Vater war durch die Klinik gerast, hatte die eigene Behandlung geplant, seine Krankenakte von einer Abteilung in die andere getragen, für sich ein Einzelzimmer gefunden, nebenher geschäftlich telefoniert, und womöglich hätte er sich noch einen weißen Mantel angezogen und der Visite angeschlossen, wenn er sich nicht hätte ins Bett legen müssen, um an Brust und Bauch rasiert und in die Chirurgie geschoben zu werden. Während die Ärzte den Vater operierten, saßen sie im Warteraum, und es war, als löste sich Dina Rosen auf, als würde in ihrem Inneren und nicht in dem ihres Mannes herumgeschnitten.»Was machen die denn? Wieso dauert das so lange? Doktor, wissen Sie, ob bei der Operation meines Mannes etwas passiert ist?«Mit der Rechten rieb sie sich den Nacken. Sie rannte auf den Gang, sobald sie draußen einen Arzt sah, und wollte wissen, wann ihr Mann die Prozedur überstanden haben werde und sie ihn endlich sehen könne. Je aufgeregter sie wurde, um so stiller wurde Ethan. Am liebsten hätte er dem ganzen Personal verkündet, seine Mutter nicht zu kennen. Sehen Sie diese Frau, diese Krawalltante, die — wollen wir wetten — gleich von ihrem Gatten, ihrem Felix, beginnen wird, mit dem sie alles zu teilen bereit ist, die keine Sekunde ohne ihn sein möchte und selbst auf der Toilette von Sehnsucht nach ihm geplagt wird, so daß sie nun schon ganz außer sich ist und am liebsten die Operation unterbrechen würde, um zu ihm zu gehen und nach dem Rechten zu schauen. Sehen Sie diese Kraftkammerzofe mit hochgesteckter Frisur, sehen Sie, wie sie auf und ab rennt voller Nervosität, ja, genau die da? Sehen Sie die? Ja? Die ist mir gänzlich fremd, der bin ich noch nie begegnet, mit der habe ich nichts zu tun!
Aber es war wie immer. Was ihn peinlich berührte, entzückte alle anderen. Niemand konnte sich dem Charme seiner Eltern entziehen.»Hören Sie nicht auf Ihren Sohn, Frau Rosen. Es stört mich keineswegs, wenn Sie nach Ihrem Mann fragen. «Der Oberarzt winkte beide heran. Für sie, für Frau Rosen, mache er gerne eine Ausnahme. Sie lasse er ins Aufwachzimmer. Eine sonst für Besucher verbotene Zone absoluter Ruhe.
Der Vater lag unter Schläuchen und Geräten, eine Atemmaske über dem Gesicht. Die Mutter streichelte ihn wach. Ethan stand am Ende des Bettes und griff nach dem linken Fuß mit den verkrümmten Zehen, massierte sachte den Rist, strich über die von Venen durchzogene Haut. Rosen blinzelte ins Licht, benommen von der Narkose. Im Hintergrund das Wimmern einer Patientin, und da sagte Dina:»Erschreck nicht, aber — sie haben dir den Ehering abgenommen.«
Er riß die Augen auf. Voller Entsetzen. Sie erwähnte nicht, daß ihm eben ein Viertel des Magens herausgeschnitten worden war. Bloß auf den Ring konzentrierte sie sich. Und auch er meinte nicht etwa, er habe jetzt andere Probleme, sondern fuhr auf, als gäbe es nichts Wichtigeres.
Sie erklärte ihm:»Wegen der Thrombosegefahr. Aber keine Angst, ich bringe dir den Ring morgen früh wieder.«
Und Rosen lächelte schwach und flüsterte unter der Maske:»Na, dann bin ich ja für diese Nacht von allen ehelichen Pflichten entbunden.«
Nie war er schlagfertiger als in den Situationen, die alle anderen sprachlos machten. Aus jeder Sackgasse wußte er den Ausweg. In der Not kannte er sich aus. Das war sein Terrain. Dina sagte, sie sei mit ihm das erste Mal ausgegangen, als er für ein Konzert, das gänzlich ausverkauft gewesen war, noch Karten ergattert hatte. Sie sagte, sie habe ihn geheiratet, weil er Plätze in überfüllten Kinos, Sitze in rappelvollen Bussen, Zimmer in ausgebuchten Hotels organisieren konnte. Wenn alle Tickets vergeben waren, trieb er noch irgend jemanden auf, der sie einer Reise, einer Erkrankung oder einer beruflichen Verpflichtung wegen nicht nutzen konnte und abgeben wollte, und dann suchte Felix diesen Menschen zu Hause, im Büro, im Militärlager, im Ministerium auf. Der Vater liebte es, im letzten Augenblick noch eine Lösung zu finden, wenn alle anderen schon aufgegeben hatten. Für seine Frau war ihm keine Mühe zu groß. Ebenso umsorgte er Ethan. Er rannte zu Lehrern, bestürmte sie seinem Sohn zuliebe, flehte sie an, den Buben, der während des Jahres mit den Eltern umgezogen war und nun in Paris oder New York eingeschult werden mußte, in die Klasse aufzunehmen. Der Junge müsse erst die Sprache neu erlernen…»Leider, wir können Französisch und Englisch ja selber nicht viel besser, Herr Professor. «Er liebte es, sich für die Seinen zu zerreißen.
Zu seinem dreizehnten Geburtstag wünschte sich Ethan einen ganz bestimmten Kassettenrecorder. Monatelang studierte er Prospekte. Er vertiefte sich in die Magazine, fachsimpelte mit Freunden. Er wußte genau, was er wollte. Sein Vater ging mit ihm ins Geschäft, ließ sich das modische Gerät zeigen und fragte den Verkäufer, ob er kein besseres habe. Na ja, so der Händler, da hinten gebe es ein teureres, ein hochwertigeres. Etwas für Spezialisten. Der Vater wollte seinem Herzstück einen besonderen Apparat schenken. War der Sohn denn nicht sein Goldkind? Für Ethan, für diese Entschädigung aller familiären Verluste, für den eigentlichen Grund seines Lebens und seines Überlebenskampfes, den er auch in diesem Laden, vor der Konzerthalle, an der Theaterkasse, im Kino und am Elternsprechtag weiterführte, war ihm nichts zu teuer, und so hatte Ethan gar keine Chance zu widersprechen. Er bekam, was er gar nicht wollte, denn der Bub wurde so sehr geliebt und mußte so glücklich gemacht werden, daß auf seine Wünsche gar keine Rücksicht genommen werden konnte. Ethan war klein, aber die Zuwendung groß. Der Recorder war so kompliziert, daß er damit nicht zurechtkam. Die Klassenkollegen schüttelten den Kopf. Sie konnten sich nicht entscheiden, ob sie Ethan beneiden oder bemitleiden sollten.
Aber wer hätte Felix Rosen vorwerfen können, wie erbarmungslos er sein Kind bemutterte? Alle sahen, daß er die Familie mit seiner Liebe umzingelte. Jeder war von seiner väterlichen Opferbereitschaft überwältigt. Ethan wurde nicht von einer jiddischen Marne umhegt, sondern von zweien.
Außer Haus war Felix nur ein Geschäftsmann, der dafür gerühmt wurde, die unmöglichsten Waren auftreiben und unter die Leute bringen zu können. Eulen nach Athen? Tee nach Peking? Uhren in den Jura? Solche Aufgaben waren kein Problem für ihn. Zu jener Zeit, in den sechziger Jahren, mußte man die Dame vom Amt anrufen, um Überseegespräche zu führen. Der Ostblock mit Eisernem Vorhang reichte dicht an Wien heran, während in Griechenland, Spanien und Portugal die Militärs herrschten. An den innereuropäischen Grenzen wurde Zoll eingehoben, und jeder Kleinstaat verfügte über eine eigene Währung. Wer eilige Nachrichten übermitteln wollte, suchte das Telegrafenamt auf. Damals existierten noch kein Fax, kein Internet und kein Mobilfunk. Es gab nur Felix Rosen, und wenn keiner wußte, wohin der Überschuß an Unterwäsche in Bulgarien gehen sollte, wie Strumpfhosen in Lagos an die Frau gebracht werden sollten, wer Lakritzen aus Ostdeutschland brauchte, was mit den Schuhen aus Prag geschehen würde, sprang Felix Rosen ein, sprang er los, knüpfte Verbindungen kreuz und quer durch die ganze Welt, und dann verschiffte er Nähmaschinen aus Hongkong nach Prag, von wo er Kinderspielzeug nach London lieferte, mit dessen Verkaufserlös er Bananen aus Panama besorgte, die er gegen sowjetischen Nickel tauschte, um das Metall einem japanischen Unternehmen zukommen zu lassen, das ihm wiederum genug bezahlte, damit er jene Apparaturen aus Hongkong finanzieren konnte, mit denen das Profitkarussell begonnen hatte. Dieses Ringelspiel war sein Sport, und meistens liefen mehrere solcher unübersichtlichen Transaktionen gleichzeitig. Kommunikationsschwierigkeiten kannte Felix Rosen nicht. Er verstand alle Wörter in jeder Sprache, er wußte bloß nicht, was sie bedeuteten. Aber das war auch nicht notwendig, denn er begriff, was sein Gegenüber meinte, ehe es gesagt war. Niemand konnte ihn übers Ohr hauen. Er baute auf Vertrauen und baute Vertrauen auf, auch dort, wo er nichts über die Herkunft der Waren verriet. Sogar wenn er bis zum Äußersten ging, seine Partner unter Druck setzte und den Preis hart aushandelte, wurde er geachtet und respektiert. Seine Partner liebten es, mit ihm Geschäfte zu machen, selbst wenn durchschien, daß er sie ein wenig über den Tisch gezogen hatte, denn er trieb es nie zu weit, zeigte Verständnis für ihre Probleme und war bereit, ihnen zu helfen, wenn sie in Not geraten waren. All das schaffte er, ohne je angestrengt zu wirken, weil er in seinem Beruf aufging und die Arbeit zu genießen wußte.