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«Ich beruhigte ihn. Gegen mein eigenes Gefühl. Ich habe ihm vom Nachruf auf Dov erzählt, von meiner Antwort… alles nur, um ihn abzulenken… und auch von dir… um ihn auf andere Gedanken zu bringen. Aber es war, als höre er mir gar nicht zu. Nur als ich von Klausingers Artikel erzählte, zeigte er Interesse. Doch dann wollte er wieder wissen:»Aber warum hast du denn die Stelle in Wien aufgegeben, Ethan?«— Ich sprach von uns. Das überzeugte ihn nicht. Mich übrigens auch nicht. Wir haben doch beide in Osterreich gewohnt. Zwei Israelis hatten es vorgezogen, an der Donau zu leben. Du und ich wollten uns von hier fernhalten. Wir hätten in Wien bleiben oder an irgendeinem anderen Ort auf dieser Welt leben können. Weder du noch ich mußten umziehen. Niemand von uns kann seiner Arbeit nur hier nachgehen. Im Gegenteil. Du bist ungebunden und international vernetzt. Aufträge kannst du in jeder Metropole entgegennehmen und ausführen. Bei mir ist es umständlicher. Ich brauche eine Universität, eine Forschungsstelle, und es gäbe für mich andernorts bessere Angebote und Möglichkeiten. Warum zu zweit nach Tel Aviv? Wozu diese Anstrengung? Migration im Doppelpack. - Vater wollte wissen, was du machst. Und kaum antwortete ich, verstand ich selbst nicht mehr, was diese Rückkehr soll. Wir könnten in vielen Ländern arbeiten, aber in wenigen unter so schwierigen Bedingungen wie hier. Ja, Tel Aviv ist wunderbar, aber nur für Besucher. Die Sonne. Das Meer. Aber das Leben? Ich frage dich: Gibt es nicht billigere, friedlichere, sicherere Orte? Und mein Vater, der immer nur gewollt hatte, ich möge hierherkommen, der nur von Zion sprach und mir erklärte, wie sehr er darunter leide, daß ich seinen Wandertrieb geerbt habe, sah mich an, als mache er sich Sorgen um mich.»Jetzt ist eine schwere Zeit«, sagte er. Als wäre es hier sonst so leicht. Ich widersprach ihm nicht. Ich bin erst kurz im Land, aber schon will ich wieder weg. Es ist wie eine Allergie. Kaum trete ich aus dem Flughafen, sehe die ganze Mischpoche, die versammelte Sippschaft, diesen Mischmasch aus Gott und Ghetto, aus Kitsch und Kischkes, sehe dazu diesen Apparat, für den die permanente Ausnahmesituation die einzige Normalität ist, die Sicherheitsleute, die Soldaten, fällt mir das Atmen schwer. Dann diese Hast, diese Anspannung, die jeden sofort in Beschlag nimmt. Wo hast du sonst noch das Gefühl, jeder renne, wenn er nur zum Parkplatz eilt oder Geld abheben will, um sein nacktes Leben. Jede Geste wird ausgeführt, als ginge es um einen Notfall. Alle greifen und grapschen zu, als müßten sie dauernd eine Reißleine ziehen. Sie glauben sich im Absturz. Immerzu. Nicht, daß die Leute hier konformistischer sind als anderswo. Im Gegenteil; jeder ist davon überzeugt, er sei der einzige, der weiß, woher die Rettung kommen muß. Jeder erzählt dir, alle anderen irren und rasen in den Abgrund. Nein, es herrscht nicht Konformismus, sondern Paranoia. Eine Volkskrankheit im doppelten Sinn des Wortes, die alle aus der Ferne mitgebracht haben, die auf den dortigen Erfahrungen gründet und der sie auch hier weiter erliegen. Nein, nicht ohne Grund, denn wir sind schließlich im Nahen Osten, aber, verstehst du, dieser Verfolgungswahn, der in der Diaspora unsere Folklore war und nötig zum Überleben, erreicht hier eine kritische Masse. In Wien vergesse ich immer, wie beengt ich mich hier fühle. Nicht nur das. Wenn mir dort einer mit solchen Eindrücken kommt, wenn der davon redet, in dieser orientalischen Ecke gebe es einfach zu viele von uns auf einem Fleck, dann setze ich dem zu, bis ihm Hören und Sehen vergeht. In diesen Momenten vergesse ich mich und all jene Gedanken, die mir selbst nicht fremd sind, sobald ich wieder in Israel bin. Doch als Abba sich so sehr wunderte, daß ich zurück im Land bin, erinnerte ich mich an nichts, was ich einem Österreicher auf eine solche Frage geantwortet hätte. Ich sah zu Boden und zuckte mit den Achseln, und dann meinte ich: Aber ich habe doch bloß einen einzigen Vater. Dabei drückte ich ihm seine Hand, und er schaute mich groß an.«

Am nächsten Morgen sagte Ethan alle Termine ab. Er würde, schrieb er nach New York, nicht zum Vortrag kommen können. Er entschuldigte sich bei der Kollegin in Rom. Er könne das Seminar dort nicht halten. Familiäre Gründe. Er verzichtete auch auf das Wochenende im französischen Schloß. Er ließ die Konferenz in Antwerpen aus. Er sagte das Symposium in Berlin ab. Er könne nicht nach Budapest zum Beirat fahren. Es täte ihm furchtbar leid, aber er sehe sich nicht imstande, nach Breslau zu kommen. Er meldete sich einfach ab. Es war, als liege nicht sein Vater im Sterben, sondern er selbst. Er gab eine berufliche Todeserklärung ab. Er rief nicht einmal die Universität an, um seinem Institut mitzuteilen, daß er wieder im Land war. Er habe keine Zeit und keinen Kopf dafür.

Vier Tage nach seiner Ankunft sandte er zum ersten Mal in seinem Leben eine E-Mail, in der er mitteilte, er sehe sich nicht in der Lage, den bereits angekündigten Artikel zu verfassen. Ein Krankheitsfall. Und nachdem er diese ihm so unangenehme Verpflichtung hinter sich gebracht hatte, fühlte er sich so erleichtert, daß er denselben Text gleich noch an alle anderen Zeitschriftenredakteure und Herausgeber schickte, denen er versprochen hatte, in den nächsten Wochen Beiträge zu liefern.

Er schrieb auch einen offiziellen Brief an Wilhelm Marker, in dem er noch einmal ausführte, daß er die Stelle am Wiener Institut nicht antreten werde, aber nicht des Eklats mit Rudi Klausinger wegen, sondern um für seinen Vater dazusein. Nachdem er das Dokument ausgedruckt hatte, klappte er den Laptop zu. Zur Post, antwortete er Noa, als sie fragte, wohin er denn gehe.

Er stellte sich an. Nur zwei von sechs Schaltern waren geöffnet. Eine lange Schlange. Eine alte Frau drängte sich vor:»Laßt mich vor. Ich schicke es Expreß.«

«Na und? Glaubst du, ich kann fliegen, weil ich Luftpost aufgebe? Stell dich hinten an. Expreß meint, daß der Brief schneller vorankommt, nicht du.«

Ein anderer mischte sich ein.»Regt euch nicht auf. Es geht um einen Brief, nicht ums Leben.«

Aber der erste antwortete:»Wieso denn? Bin ich ein Freier?«Ein Freier, das war ein Lieblingsbegriff im Land.

Das Wort aus dem Deutschen bezeichnete auf hebräisch jene, die großherzig und spendierfreudig bis zur Selbstaufgabe waren, und seit einigen Jahrzehnten wollte das keiner mehr sein in Israel. Kibbuzniks waren vielleicht einst Freier gewesen. Die Chaluzim, die Pioniere, die sich für ihre Ideen aufgeopfert hatten, mochten womöglich Freier gewesen sein, jetzt waren das Gestalten, denen nicht zu trauen war, sei es, weil sie dumm waren oder weil sie in Wirklichkeit verborgene Ziele verfolgten.

Nachher kaufte Ethan ein paar Gurken beim Gemüseladen gegenüber. Der Verkäufer sagte:»Schau dir bloß diesen Salat an. Das wächst in unserem Land. Ist es nicht herrlich? Was für ein wunderbarer Staat. Hier, nimm das in die Hand. Willst du es kosten? Wenn du das ißt, weißt du, daß es einen Gott gibt. Daß der Messias kommt. Glaubst du denn nicht auch, daß der Messias kommt?«

«Ändert meine Antwort irgend etwas an dem Preis der Gurken?«

«Natürlich nicht!«

«Na, eben!«

Der Verkäufer fragte, ob er in der Gegend wohne und was er arbeite, dann wandte er sich ab, um einen anderen Kunden zu bedienen.

Noa simste ihm eine Nachricht:»Lust auf Sushi?«

«Keine Zeit. Besuche Vater«, tippte er zurück.

Mit dem Taxi fuhr er in die Klinik. Kaum hatte er sein Ziel genannt, wollte der Fahrer wissen, ob er denn krank sei, weshalb er unbedingt dahin wolle. Eine Kaskade von Fragen, und jede Antwort führte zur nächsten Erkundigung. Danach erzählte der Chauffeur von seinen Leiden, derentwegen er sein früheres Geschäft, einen Kiosk, aufgegeben hatte. Er fragte Ethan nach dessen Arbeit, und als er hörte, wo er in den letzten Monaten gelebt hatte, sagte er:»Wie konntest du dort wohnen? Die sollen alle Antisemiten sein. Müssen die Juden da nicht um ihr Leben fürchten?«Erst als Ethan ihm versicherte, es werde in Osterreich keinem Juden ein Haar gekrümmt, erstarb das Gespräch, und der Mann sah ihn argwöhnisch an, als hätte er eben behauptet, Nazis seien überaus liebenswerte Menschen und die ganze Geschichte von der Verfolgung wäre nur ein Mißverständnis.