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Ethan mußte an jenen Wiener Taxler denken, der Noa und ihn einige Tage vorher zum Schwechater Flughafen gebracht hatte.»Nach Israel? Ist die Lage dort denn sicher genug? Ich meine nur. Wegen der Attentate.«

Noa daraufhin:»Taxifahren ist gefährlicher.«

Der Zustand seines Vaters hatte sich verschlimmert. Er lag vollkommen entkräftet da. Jede Bewegung war ihm zuviel. Er keuchte. Sein Körper war besetztes Gebiet. Der Schmerz hatte ihn okkupiert, saß ihm in den Gliedern. Vater und der Schmerz. Ein gegenseitiges Belauern. Er wollte dennoch reden. Er gab nicht auf, blickte seinen Sohn traurig an, als wolle er sich für sein Benehmen entschuldigen, als tue es ihm leid, sein Kind seinetwegen leiden sehen zu müssen.

«Du hättest nicht wegen des Nachrufs einen Streit beginnen dürfen.«

«Das ist jetzt unwichtig.«

«Du hättest einen Text für Dov schreiben sollen. Nicht eine Polemik gegen den anderen. Eine Hommage. Er hätte es verdient.«

«Ich konnte nicht.«

«Aber verstehst du nicht? Das Gedenken wäre die bessere Antwort gewesen… Ohne diesen anderen zu erwähnen. Was soll der dir? Wenn Klausinger glaubt, Dov, dem Vertriebenen, so die Ehre zu erweisen… Soll sein. Was muß dich das stören?«

«Du hast dir sogar seinen Namen gemerkt? Abba, denk nicht daran. Warum ißt du das Joghurt nicht? Und du mußt dein Wasser trinken.«

Er wehrte das Glas ab, preßte hervor:»Niemand hätte dir das übelgenommen. Deine Erinnerung an Dov… Im Gegenteil… Aber jetzt ist er eine umstrittene Gestalt. Sein Leichnam, seine Biographie ein Schlachtfeld. Und du hast das gemacht.«

«Hätte ich schweigen sollen? Müssen wir uns auf den Kopf spucken lassen und dann sagen, daß es regnet?«

«Über Dov hättest du schreiben müssen.«

«Hier, dein Joghurt.«

«Laß mich, ich kann nicht mehr. — Es ist nicht zu spät dafür. Setz dich hin und schreib.«

«Ich will nicht. Die ganze Debatte hängt mir zum Hals heraus.«

Sie sahen aneinander vorbei. Ethan nahm die Schale und einen Teelöffel zur Hand. Der Kranke drehte das Gesicht weg:»Dov war kein Rassist. Es ging ums nackte Überleben. Wir waren auf der Flucht.«

Er löffelte dem Vater das Essen in den Mund.

Aber nach dem zweiten Bissen keuchte der:»Glaubst du, wir hatten eine andere Wahl? Es gab keinen Ausweg. Wohin hätten wir denn sollen? Nach Auschwitz? Hätte ich im Lager bleiben sollen?«

«Hier geht es nicht um Auschwitz. Klausinger schrieb von Israel, von Dov, vom Kibbuz. Über das Land der früheren arabischen Nachbarn…«

«Sie waren geflohen. Wir haben den Krieg nicht begonnen.«

Ethan wiederholte nur:»Es geht nicht um Auschwitz.«

«Ich habe es geahnt. Insgeheim gibst du denen recht. Ich kenne dich. Einen Sohn habe ich aufgepäppelt und großgezogen… Das eigene Fleisch und Blut…«

Ethan schüttelte den Kopf, aber er sagte nichts.

Von unten, im Liegen, sah Felix Rosen auf seinen Sohn, der sich über ihn beugte und auf ihn herabblickte. Felix Rosen sah sein Ende. Er würde bald nicht mehr sein. In ihm staute sich das Gift. Sein Körper wurde geflutet. Ihm war nicht nur, als werde er in Zukunft nicht mehr sein. Er schaute zu, wie alles, was er je gewesen war, ausgelöscht wurde. Selbst seine Vergangenheit wurde nachträglich verfälscht und vernichtet. Er war nicht als Zionist ins Land gekommen, sondern bloß mit letzter Kraft. Viele im Displaced Persons Camp sprachen den ganzen Tag nur von der Aussicht auf einen Judenstaat. Ihn hatte vor allern beschäftigt, nicht zugrunde zu gehen. Ehe er an Bord eines illegalen Schiffs nach Palästina aufgebrochen war, hatte er sich bemüht, ein Visum in die USA zu erlangen. Vergeblich.

Damals war es noch kein Verdienst gewesen, ein Opfer, ein Überlebender zu sein. Die Schmach der Verfolgung haftete an ihm. Er stank nach Angst und Tod. Die Leute wollten nicht hören, wie es ihm ergangen war. Keiner wollte wissen, wie er den Mördern entronnen war. Niemand wagte zu fragen, wieso er nicht umgebracht und verbrannt worden war, aber er fühlte, daß er unter Verdacht stand, allein weil er noch existierte.

Kaum jemand hatte sich damals für einen wie ihn, für den jungen Felix Rosen interessiert. Nicht die Amerikaner und nicht die Russen. Aber Dov Zedek sehr wohl. Er hatte nach ihm gesucht, ihn wiedergefunden und aus dem Lager herausgeholt.

«Nichts weißt du«, ächzte Felix Rosen, während Ethan, das Joghurt in der Hand, sich über ihn beugte.

«Er tut so, als hätte ich keine Ahnung. Ich kenne die Geschichte, wie und von wem er inmitten der anderen Überlebenden aufgestöbert wurde. Sie wurde mir Dutzende Male erzählt — von beiden. Glaubt er wirklich, ich werfe Dov vor, ein Rassist gewesen zu sein? Ich besuche ihn, halte ihm die Hand, stütze ihn, wenn er aufs Klo muß, bringe ihm die Zeitungen, lese ihm daraus vor. — Ich will ja kein Dankeschön. Ich mache es, weil ich nicht anders kann. Es ist kein Gefallen für ihn. Es ist eine Notwendigkeit für mich. Ich bin sein Sohn. Aus. Fertig. Aber seine Angriffe halte ich nicht mehr aus.«

Noa hörte zu. Seit einer Woche sah sie mit an, wie er sein Leben ausgesetzt hatte und nichts anderes mehr tat, als die Tage bei seinem Vater zu verbringen. Zu ihren Füßen der rotgetigerte Kater, Tschuptschik.

Er kochte, während er ihr von seinem Vater erzählte. Er begann, einen Strudelteig einzurollen, und berichtete dabei, wie er den Arzt angeschrien hatte, denn es müsse doch eine Ursache für die Schmerzen geben. Er hackte den Salat und klagte, sein Vater esse nicht genug. Erst als er ihr den Teller servierte, teilte er ihr mit:»Abba will dich kennenlernen. «Sie nahm einen Schluck Wasser. Tschuptschik stand auf, rekelte sich und schlich aus der Küche. Geflatter bei den Wellensittichen. Wieso das Gespräch auf sie gekommen sei, wollte sie wissen. Sicher werde er bald vergessen haben, sie sehen zu wollen.

«Kennst du den Unterschied zwischen einem Rottweiler und meinem Vater? — Ein Rottweiler läßt manchmal wieder los.«

«Das wird sonst über die jiddische Marne gesagt.«

«Eben. Mein Vater ist die Marne aller jiddischen Maines. Meine Mutter hingegen nicht. Sie ist ein israelischer Panzerkommandeur.«

Einige Tage später fühlte sich sein Vater ein wenig besser.»Bring sie mit«, schrie er ins Telefon.»Ich brauche Abwechslung. Ich glaube, du traust dich nicht, sie mir vorzustellen. Du fürchtest wohl, ich könnte ihr zu gut gefallen. Hat sie etwa ein Faible für Hinfällige?«, und ein wenig später rief er nochmals an:»Dein Anblick langweilt mich noch zu Tode, mein Sohn. Zeig mir deine Freundin, und alles wird wieder gut.«

Noa und Ethan fuhren mit Dina ins Krankenhaus. Die beiden Frauen verstanden sich so prächtig, daß Ethan am liebsten gleich ausgestiegen wäre. Er steuerte Vaters Wagen, während Noa und Dina hinten miteinander tratschten und lachten. Auf dem Beifahrersitz lag ein Strauß Blumen, den Noa besorgt hatte. Die Mutter erzählte, Ethan sei bereits als Kind ein zerstreuter Professor gewesen, vollkommen anders als Felix. Beide aber, Vater und Sohn, seien im Grunde treue Seelen, was in stereophones Frauenlachen mündete.

Sie fuhren an einem Hügelplateau vorbei, ein mit Erde bedeckter Müllhaufen, eine künstliche Erhebung aus Abfällen. Er blickte zur kahlen Anhöhe hinauf. In der Ferne zogen Kakteenstauden durchs Feld. Grenzmarken früherer arabischer Eigner. Sattes Grün säumte die Straßen. Kein Haus und kein Garten ohne Blumenhain und Obstbäume. Da ergoß sich eine Bougainvillea über den Zaun, dort stieg ein Eukalyptus im Schatten einer Mauer empor. Überall feuerten die Wasserkanonen. Das ganze Land wurde in Schuß gehalten. Ein ewiger Kampf.

Das Leben schien hier nur durch außergewöhnliche Anstrengungen möglich. In Wien war ihm alles leichthin zugeflossen. Jetzt fand er nicht die Kraft, einen Text zu schreiben oder auch nur das Institut aufzusuchen. Der Streit mit Rudi Klausinger war ihm nicht mehr wichtig. Die Auseinandersetzung kaum der Rede wert. Vater hatte recht. Weshalb hatte er statt der Polemik gegen Klausinger keine Hommage auf Dov Zedek geschrieben? Wieso war er den Attacken nicht ausgewichen? Als er in das Krankenhausareal einbog, hatte er für einen kurzen Augenblick das Gefühl, einen südlichen Zwilling von Klausinger zu erspähen, ein Phänomen, das er von seinen vielen Reisen kannte, ob in Mumbai, Colombo, Hongkong, in New York, Sofia oder Marrakesch. Überall fand er — am Straßenrand, im Restaurant, auf dem Flughafen — einen, der ein dunkleres oder helleres Double eines bekannten Gesichts aus einem anderen Land zu sein schien. Schon als Bub hatte Ethan solche Visionen gehabt. Er war überzeugt gewesen, der Portier im Hotel von Delhi sei der Kellner aus dem Pariser Cafe, wohin sein Vater so gerne ging. Und wieso sah niemand, daß der Elektriker in New York in Wirklichkeit der Trafikant aus Wien war?