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Gekämmt, gewaschen und frisch eingekleidet, so empfing sie Felix Rosen. Er hatte diesmal eine Brille auf, das goldene Modell aus den Achtzigern, die Gläser waren über die Jahre matt geworden. Das Zimmer war gelüftet worden, das Bett neu bezogen. Er saß aufrecht, ein wenig angespannt und immer noch blaß und aufgebläht. Die Haltung tat augenscheinlich weh, aber er ließ sich nichts anmerken. Noa präsentierte ihren Strauß. Felix lächelte sie an und ergriff ihre Hand. Er habe bereits viel von ihr gehört.

Ethan fragte ihn auf deutsch, ob die Nachtschwester freundlich zu ihm gewesen sei — »sprich hebräisch«, unterbrach ihn Felix,»wir haben keine Geheimnisse vor Noa.«

Sie spreche Deutsch, sagte sie. Sie habe schließlich jahrelang in Wien gelebt. Ihre Sätze — ohne Fehler, wenn auch mit kehligem Akzent, die Zischlaute tiefer angesetzt und die Vokale dunkler gefärbt — lösten eine beinah hysterische Euphorie aus. Felix und Dina konnten ihr Glück kaum fassen.»Was du nicht sagst? Sie kann Deutsch!«Wären sie auf einen Marsmenschen gestoßen, der Heurigenlieder singt oder Walzer tanzt, hätten sie nicht überraschter tun können.

Deutsch zu sprechen galt ihnen als Auszeichnung. Jahrelang waren ihresgleichen, Juden aus Osterreich, dafür verachtet worden, immer noch in der Sprache der Mörder zu reden. Den früheren Nachbarn aus der Ben-Jehuda-Straße haßte Felix jedoch dafür, daß er seit Jahrzehnten im Land lebte, viel länger als er und Dina, und dennoch nicht Hebräisch gelernt hatte. Die Ben Jehuda war das Zentrum der deutschsprachigen Einwanderer in Tel Aviv gewesen. Hier wohnten sie. Hier machte Ethan seine ersten Schritte. Hier genügte es niemandem, dem Straßennamen das Wort Rechov voranzustellen. Die Ben Jehuda wurde hebräisch und deutsch eingerahmt. Der Berliner Hermann Steiger sagte, er wohne in der Rechov-Ben-Jehuda-Straße, und allein diese Wortwahl machte ihn zum Preußen Judäas, zum zionistischen Piefke, zum Piefkineser aus Tel Aviv.

«Wir sind keine Jekkes, sondern Juden aus Österreich«, erklärte Felix Herrn Steiger.»Wir sind keine Jekkes, sondem aus Österreich, aus Wien«, wiederholte er vor seinen Geschäftspartnern, vor dem Gemüsehändler und dem Friseur. Aber was wußten die schon, die aus dem Irak, aus Jemen oder Marokko hierhergekommen waren? Nebbich. Für jene war er ein Jekke und würde es bleiben. Selbst die Polischen, die Tschechischen und die Rumäner machten da keinen großen Unterschied. Die Wiener selbst nannten die Ben Jehuda den Kanton Ivrit, weil man hier» kan Ton «Hebräisch hörte.

In der Buchhandlung am Eck konnten die Werke Goethes, Schillers und Heines gekauft werden. Herzl und Freud gab es hier nur im Original. Daneben eine Zahnarztpraxis mit dem Türschild:»Hier werden alle Sprachen gesprochen!«Eines Tages wagte Felix die Frage:»Sie sprechen alle Sprachen, Herr Doktor Kohn?«Worauf der Dentist sich über Felix beugte und sagte:»Ich doch nicht. Aber meine Patienten.«

Felix und Dina fragten Noa nach ihren Eltern und Großeltern. Ethan kannte dieses Ritual. Sie taten gerne so, als wären alle Juden auf der ganzen Welt ein einziges Familienunternehmen. Abba erkundigte sich nach ihrem Nachnamen, und beide, Mutter und Vater, sahen einander vieldeutig an. Dina meinte, sie würden Noas Verwandte kennen. Ethan sah zur Decke und seufzte, doch sie ließen sich nicht beirren. Wo ihre Eltern wohnten? Was sie beruflich machten? Noa erzählte von der Scheidung, erzählte von ihrem Großvater, seiner Bäckerei, dem Zuckerwarengeschäft in Jerusalem, von ihrem Vater, der gemeinsam mit seinem Freund, Menasche Salman, eine Firma für fotografische und optische Waren besessen hatte.

«Salman? Der Fotograf? Den kennen wir gut!«

«Wirklich? Er ist aber kein Fotograf.«

«Was redest du, Felix«, rief Dina.»Seit wann ist Salman Fotograf?«

«Ja, heute steht er in seinem Fotokopierladen! Früher rannte er mit einer Kamera herum.«

«Was für ein Fotokopierladen«, widersprach Ethan.»Das ist eine Kette, die optische und elektronische Geräte verkauft. Die haben Filialen in Haifa, Tel Aviv, in Beer Sheva, in Eilat. Glaubt ihr etwa, es gibt nur einen Salman in Jerusalem?«

«Was mischst du dich ein? Was ist dein Problem? Du kennst doch Salman überhaupt nicht. Das ist der mit der Glatze…«

«Haare hat er tatsächlich nicht mehr viele«, gab Noa zu.

«Sag ich doch. Ein alter Freund. Mit so einem Bauch.«

«Na ja, derart dick ist er nicht.«

«Schau, wie sie ihn in Schutz nimmt«, lachte Dina. Aber Felix sorgte sich:»Er hat abgenommen. Wie geht es seinen Beinen?«

«Er betreibt Nordic Walking.«

Dina sagte:»Wunderbar! Kein Wunder, daß er nicht mehr so dick ist. Hörst du, Felix. Das Bein ist geheilt. Sogar ein paar Haare sind ihm gewachsen. So ist er — unser Salman!«

Der Vater wurde stiller. Er schob den Unterkiefer vor.

Die Augen wurden schmal. Er stützte den Oberkörper mit dem Arm ab. Ihm war anzusehen, wie schwer es ihm fiel, die Schmerzen zu überspielen. Dina hatte ihm eine Suppe mitgebracht, aber Felix war nicht imstande, einen Löffel zu essen. Noa füllte Wasser in einen Schnabelbecher, aus dem Vater trinken konnte, ohne sich aufsetzen zu müssen. Er dankte ihr mit einem Nicken. Er war nun gänzlich verstummt.

Später kam die Visite, und sie wurden gebeten, das Zimmer zu verlassen. Sie standen im Gang, und als die Ärzte fertig waren, trat der Chefarzt auf Dina und Ethan zu. Noa machte einen Schritt zurück. Sie hole Kaffee für alle.

Sie wüßten noch immer nicht, sagte der Mediziner, woran Felix eigentlich leide. Die Niereninsuffizienz sei es nicht. Hier gehe es wohl um eine lokale Infektion oder einen eingeklemmten Nerv. In der Nacht habe Felix so laut geschrien, daß andere Patienten davon aufgewacht seien.

Als sie wieder ins Zimmer traten, winkte der Vater Ethan heran. Er setzte sich dicht ans Bett. Felix raunte:»Sie ist besonders. Wunderschön und klug.«

«Du kennst doch unseren Sohn. Sag ihm lieber, dir mißfällt Noa«, mischte sich Dina ein.

«Laßt mich doch bitte in Ruhe.«

«Siehst du? Überall und immer dagegen. In Paris die Arbeit über Kolonialfilme, in Jerusalem die Studie über Palästinenser in der Literatur. In Tel Aviv die Vorträge über diese muslimischen Ruinen. Den Österreichern redet er vom Antisemitismus, und in Chicago wolltest du unbedingt den Kommunismus einführen. Aber als Vater dich in die DDR mitnahm, mußtest du ausgerechnet sowjetkritische Literatur einpacken.«

«Und die Forschungseinladung nach Tirnovo«, warf Felix ein,»kaum angekommen, referierte er über die Situation der Roma in Bulgarien.«

«Hatte ich unrecht?«

«Ein Besserwisser bist du! Ein Herr Klug! Mit noch vollen Koffern gibst du schon allen Bescheid.«

Er war diesen Hohn gewohnt. Sie hatten ihn darauf getrimmt, ein kleines Genie zu sein, um es ihm gleichzeitig vorzuwerfen. Als Volksschüler war ihm von der Mutter bereits ausgerichtet worden:»Du bist ein echtes Wunderkind. Das Wunder wird gehen, und das Kind wird bleiben.«