«Nebbich ist kein Kampfhund. Er tut nichts. Ich habe ihn unter Kontrolle. Solange ihr euch nicht auf seine Pfoten setzt.«
Ein anderer Gast sagte:»Das ist ein jüdischer Kampfhund. Der gehört ins Kaffeehaus.«
«Jüdisch? Ist er ein Angstbeißer?«fragte darauf Noa.
Rudi kam wieder näher an den Tisch. Er sprach leiser weiter. Er sei sich am Anfang ja gar nicht sicher gewesen, auf seinen Vater gestoßen zu sein. Der Verdacht allein hätte ihm natürlich nicht genügt. Deswegen seine Recherche. Darum auch der Besuch im Krankenhaus. Er habe die Briefe gekannt und Felix vor einiger Zeit geschrieben, aber bis heute war der Alte vage geblieben und hatte zwar nichts abgestritten, aber auch Zweifel an seiner Vaterschaft geäußert. Ja, er sei ein Bastard, ein Mischling. Er sei für die Nicht-Juden ein Jude und für die Juden ein Goj. Und er sei es gewohnt, sich einzuschmuggeln und einzugemeinden, in jede Kultur und jedes Land. Und wer meine, das höre mit der Kindheit auf, habe nichts begriffen.
Er war wieder lauter geworden, der Terrier bewegte die Ohren und zog die Lefzen hoch. Die Nachbartische hatten längst begonnen, den Streit aus den Augenwinkeln zu verfolgen. Die Kellnerin patrouillierte auf und ab. Rudi bestellte eine weitere Flasche Goldstar. Er wußte nicht, was er sich vorwerfen sollte. Er hatte sich um eine Stelle beworben, für die er qualifiziert war. Er hatte einen Artikel geschrieben, weil er von einem Redakteur darum gebeten worden war. Er hatte Ethan zitiert, ohne ihn zu nennen. Nun gut. Das war nicht fein, aber auch kein Verbrechen. Hatte er voraussehen können, dadurch einen solchen Skandal auszulösen?
Ein Kind ratterte mit einem Plastiktraktor vorbei. Die Kellnerin brachte die Bestellung, und Rudi setzte das Bier an, ließ es in sich hineinrinnen.»Ich scheiß drauf. «Es war mehr ein Rülpsen als ein Sprechen. Und dann:»Wer braucht einen wie dich schon als Bruder?«
Rudi stand auf. Am Nachbartisch sagte einer, die seien sicher verwandt, nur Familienmitglieder könnten so streiten. Rudi setzte sich wieder.
Ethan nahm die Briefe zur Hand. Es waren kurze Schreiben. In Eile hingeworfen.»Ich habe prinzipiell nichts gegen die Möglichkeit. Wir könnten Brüder sein, natürlich. Es geht nicht darum, daß die Ordnung der Familie durcheinanderkommt. «Er verzog angewidert das Gesicht, als er die Worte» Ordnung der Familie «aussprach.»Geschwister sind keine Frage der Wahl. Wenn Felix erklärt, dein Vater zu sein, wer bin ich, es zu bestreiten.«
Rudi richtete sich auf und beugte sich mit hochgerissenen Armen zu Ethan, um ihn zu umarmen, aber der American Pit Bull, der mit zuckenden Lefzen und gebleckten Zähnen den Streit der beiden Männer belauert hatte, sprang mit einem Knurren auf und schnappte nach Rudis Hintern. Rudi schrie auf vor Schmerz. Ethan brüllte den Besitzer an:»Ich bring dich um! Nicht den Hund, sondern dich.«
«Ist schon gut. Reg dich ab«, antwortete der Mann.»Es ist ja nichts passiert.«
Rudi rief:»Was soll das heißen? Was, wenn er Tollwut hat?«
«Nebbich«, sagte der andere, und es war unklar, ob er sich damit auf Rudi bezog oder seinen Hund zurückrief.
Es sei genug. Der Besitzer des Cafes stand plötzlich vor ihnen. Er räumte den Tisch ab. Das Vieh habe ab sofort Lokalverbot, und die ganze Blase, ob Geschwister oder nicht, solle jetzt abhauen. Und zwar sofort. Er verzichte auf die Bezahlung. Raus.
Sie wollten ohnehin nach Hause. Der Biß des Hundes hatte bei Rudi kaum Spuren hinterlassen, aber er wollte sich hinlegen. Auch Ethan und Noa fuhren heim. In der Nacht klammerte er sich an sie. Sie hielten sich aneinander fest, als wäre das Bett abschüssig. Im Dunkeln fühlte Ethan den Kater über seine Füße tapsen.
Am nächsten Morgen frühstückten sie gemeinsam. Danach las er drei Seminararbeiten, die ihm per E-Mail zugeschickt worden waren. Er mußte Anfragen beantworten. Eine Einladung zu einer Konferenz lehnte er dankend ab. Aus dem Tel Aviver Institut erreichten ihn bürokratische Mitteilungen. Er löschte sie. Wilhelm Marker bat ihn, sich zu überlegen, ob er sich nicht doch bewerben wolle.
Auf seinem Schreibtisch stapelten sich Briefe. Er öffnete die Kuverts. Rechnungen, Veranstaltungsankündigungen und Werbung. Er ließ alles achtlos liegen, hörte danach seine Mailbox ab. Ein Rabbi Jeschajahu Berkowitsch bat um Rückruf. Der Name kam ihm bekannt vor, aber ihm fiel nicht ein, wo er schon auf ihn gestoßen war. Ethan skizzierte einige Ideen zu einem Aufsatz über Selbstmordattentate und fuhr mittags zur Universität.
Er stieg die Treppe hoch zum Eingang und öffnete seine Tasche, als er die Sicherheitskontrolle passierte. Gegenüber der Bibliothek lag das Gebäude, in dem sich sein Büro befand. Studenten grüßten ihn, und als er ins Sekretariat kam, fragte ihn eine junge Assistentin nach der Professur in Wien. Sie wunderte sich, daß er die Stelle ausschlagen wollte, um nach Tel Aviv zurückzukehren, schaute ihn an, als litte er an einer unheilbaren Krankheit. Ein Dozent der deutschen Geschichte sprach ihn an. Ob eine gemeinsame Lehrveranstaltung denkbar sei?
Er klopfte bei Jael Steiner an, die erst vor einem halben Jahr zur Vorsitzenden der Abteilung gewählt worden war. Sie wollte gerade in die Mensa und bat ihn, sie zu begleiten.
Er fehle sehr am Institut, meinte sie, worauf Ethan sagte, da habe er gute Nachrichten. Er werde die Stelle in Wien womöglich nicht antreten. Er würde dort allerdings mehr verdienen und wolle deshalb über einen neuen Vertrag verhandeln.
Sie lächelte müde.
Überall konnte er auf mehr hoffen, nur hier, gleichsam zu Hause, wurde ihm nicht zugestanden, was er andernorts wert war. Ein Fremder mit ähnlichem Curriculum, sagte Ethan, würde zweifellos besser eingestuft werden.
Sie nickte und grüßte eine Kollegin aus der Sinologie. Das Mittagsmenü könne sie heute durchaus empfehlen. Ein Wokgericht, sagte sie noch, um übergangslos fortzusetzen, daß er selbst es schließlich gewesen sei, der vor kurzem hier sein Büro zur Verfügung gestellt habe. Dann nahm sie einen Schluck vom Kaffee, kramte Zigaretten hervor, steckte sich eine in den Mund, zündete sie aber nicht an, da das Rauchen im Gebäude verboten war.»In Wien wolltest du nicht als Fremder behandelt werden, und hier meinst du, es wäre besser, einer zu sein?«
Wer ihr von seinen Problemen in Osterreich erzählt habe? Noch ehe er den Satz zu Ende gesprochen hatte, ahnte er schon die Antwort, hörte im voraus, welcher Name gleich fallen würde.
«Ein Kollege. Österreicher. Rudi Klausinger, ich lernte ihn vor Jahren kennen. Auf einer Konferenz in Beer Sheva. Er wird in diesem Semester hier lehren… Was hast du, Ethan? Du schaust plötzlich so komisch.«
Er wählte Dovs Nummer. Der Anrufbeantworter schaltete sich ein, und er hörte die Stimme von Dov Zedek.»Dov Zedek. Das wird ein recht einseitiges Gespräch, aber ich rufe alle zurück, die mir eine Nachricht hinterlassen.«
«Hier spricht Ethan. Katharina, ich versuche, dich zu erreichen. Wenn du das Band abhörst, melde dich bitte. Meine Nummer lautet…«
In diesem Moment das Klicken in der Leitung und dann Katharinas Stimme:»Ethan? Bist du im Land?«
«Vater ist im Spital.«
«Was? Felix? Ist es die Niere?«
«Sie wissen es nicht.«
«Kommst du vorbei, wenn du in Jerusalem bist?«
«Hast du in einer Stunde Zeit?«
«Ich warte.«
Er holte Vaters Auto aus der Garage. Nach etwa vierzig Minuten hatte er die Serpentinen erreicht, die nach Jerusalem hinaufführten. Dovs Wohnung lag in Machane Jehuda. Er kurvte durch die Straßen, fand keinen Parkplatz. Endlich, dreißig Minuten zu spät, läutete Ethan an der Tür. Katharina begrüßte ihn durch die Gegensprechanlage. Als sie ihm öffnete, wunderte er sich, wie gut sie aussah. Nie war sie ihm schöner erschienen. Sie lächelte ihn an. Erst als er nachfragte, wie es ihr denn gehe, merkte er, wie sie in sich zusammensackte.
«Es wird«, antwortete sie. Die Zimmer waren unverändert. Vollgeräumt. Die Wände verschwanden hinter Regalen und Einbaukästen. Überall stapelten sich Bücher und Zeitschriften. Dovs Arbeitstisch schien unberührt. Auf dem Sofa lag noch das Buch, das er zuletzt gelesen hatte. Aufgeschlagen.